Berthold Beitz (German Edition)
eine der schmerzhaftesten Stunden seiner Zeit bei Krupp: »Was jetzt geschieht, tut mir auch weh.«
Ein Wort von ihm hätte genügt, und der Wind des Widerstands hätte Cromme aus dem Amt gefegt. Viele haben ihn gedrängt, seinen Stahlchef fallen zu lassen. Helmut Laakmann erinnert sich: »Viele bei uns haben damit gerechnet, dass Beitz dem Cromme das Licht ausknipst. Ich nicht. Die haben das zusammen ausgeheckt, und die Gewerkschaften und die Landesregierung hatten die Köpfe mit drin.« Und wirklich, Beitz steht zu Cromme. Dieser entwickelt ein Stehvermögen, das Beitz imponiert, und beweist nicht zuletzt auch Mut. Er begibt sich persönlich auf die Betriebsversammlung, obwohl ihn Topmetaller gewarnt haben: »Gehen Sie da nicht hin, wir haben es nicht im Griff!« Er lässt sich mit Eiern bewerfen und ausbuhen, aber die Ruhrarbeiter haben genug gesunden Menschenverstand, um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. »Ich habe die Leute ja sogar verstanden«, sagt Cromme heute. »Der Strukturwandel war brutal, das Ruhrgebiet vom Zechensterben und der Stahlkrise wundgescheuert.«
Der Sturm auf die Villa Hügel hat den Aufsichtsrat nicht in die Knie gezwungen, und so geht der Kampf weiter, radikaler noch als zuvor. Schon am nächsten Tag ist die Rheinhausener Brücke dicht. An den Auffahrten drängen sich Hunderte von Arbeitern und wärmen sich die klammen Hände an der Glut von Kohlekörben. Aus Rheinhausen kommen Frauen mit Glühwein und Brötchen. An der Spitze einer Solidaritätsdemonstration schreitet sogar ein junger Polizist, der herausfordernd ein Plakat mit einem Steckbrief Crommes trägt: »Gesucht wird Dr. Gerhard Cromme. Tot oder lebendig wegen Mord am Standort Rheinhausen und Betrug der Arbeitnehmer. Belohnung: Leben und Arbeiten in Rheinhausen …« Die Arbeiter haben den »Stahlaktionstag« ausgerufen und die Ausfallstraßen und Rheinbrücken besetzt; im halben Ruhrgebiet herrscht Verkehrschaos. Die Mütter und Frauen des Stadtteils, unterstützt von Menschen aus allen Nachbarstädten, ziehen in einem langen Fackelzug zum Tor I. Und inmitten der betagten Arbeiterhäuschen der Siedlung Margarethenhof in Rheinhausen liegt im Schmutz die Büste Friedrich Alfred Krupps, in dessen Zeit als Firmenchef das Stahlwerk gebaut wurde. Unbekannte haben das Denkmal des Firmengründers in der Nacht demontiert.
Geschlagene 160 Tage lang begehrt Helmut Laakmann, neben dem Rheinhausener Pfarrer Dieter Kelp und Betriebsrat Theo Steegmann die Führungsfigur in Rheinhausen, gegen die Schließung des Werks auf. Die Kruppianer streiken, sperren Autobahnen, sie stürmen das Verhandlungszimmer in der Krupp-Zentrale und scheren sich nicht um die Bannmeile des Düsseldorfer Landtags. Vor Crommes Privathaus steht zeitweilig eine bedrohliche »Mahnwache« von Werksangehörigen. Gewerkschaft und Landesregierung – Laakmann verachtet beide von Herzen – helfen am Ende, eine Schonfrist zu erreichen.
Die unerwartete deutsche Wiedervereinigung sorgt schließlich dafür, dass dem Stahlwerk Rheinhausen doch noch eine Gnadenfrist gewährt wird. Die Nachfrage nach Stahl ist groß, und so produziert Rheinhausen für eine Weile weiter. Für den trügerischen Hauch des Augenblicks bleibt alles so, wie es immer war. 1993 aber soll das Hüttenwerk dann endgültig zumachen. Helmut Laakmann mobilisiert noch einmal die alten Mitstreiter. Aber es ist das letzte Aufgebot. Im Saal der Kirchengemeinde »Auf dem Wege« sitzen im März 1993, müde an die Wand gelehnt, Laakmann und fünf weitere Meister aus dem Stahlwerk. Sie befinden sich im Hungerstreik. Doch selbst Pfarrer Kelp warnt ihn nun: »Wenn wir den Bogen überspannen, ist das der Schwanengesang für Rheinhausen.« Laakmann erwidert: »Du musst Mut haben.«
Aller Mut wird am Ende nichts helfen. Die Tage des Stahlwerks sind endgültig gezählt. Laakmann hat verloren, Cromme gewonnen, und an Mut hat es den Kontrahenten im Kampf um das Werk nicht gefehlt. Laakmann hatte den Mut zu kämpfen, Cromme den Mut, mit der Tradition zu brechen, und Beitz den Mut, ihn zu stützen. Aber es ist vorbei, die Zeit der tausend Feuer des Protests ebenso wie die des Hüttenwerkes Rheinhausen.
Heute erinnert fast nichts mehr an das große Stahlwerk außer einigen verlassenen Gründerzeitvillen aus jenen Tagen, als die Direktoren noch auf dem Werksgelände zu residieren hatten, um das Gefühl für den Betrieb nicht zu verlieren. Es sind bröckelnde Zeugen besserer Jahre, die Fenster, Türen und
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