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Berthold Beitz (German Edition)

Berthold Beitz (German Edition)

Titel: Berthold Beitz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Käppner
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Linhard ist ein großer Mann, er packt den Sohn und schiebt sich nach vorn. Im Gedränge wirft er seinen langen Mantel über sich und Salek und schließt sich dem Strom der Karpathen-Arbeiter an, so schmuggelt er ihn hinaus, vier Beine unter einem Umhang, an den nervösen, brüllenden Posten vorbei.
    Als der Junge draußen wieder unter dem Mantel hervorkommt, sieht er Berthold Beitz, kaum dreißig Meter von ihm entfernt. Er diskutiert mit einem deutschen Offizier, der eine Armbinde mit Hakenkreuz trägt. Wortfetzen der Debatte sind zu verstehen: »Der ist auch bei mir!« – »Und der auch, den brauche ich dringend.« – »Und dieser hier steht auf der Liste …« Der Offizier ist laut Sandkühler SS -Obersturmführer Robert Gschwendtner, die rechte Hand des SS - und Polizeiführers im Distrikt Galizien, Friedrich Katzmann, der zentralen Figur des Mordapparates im Generalgouvernement. Mit Gschwendtner, der gern damit prahlt, dass er wieder eigenhändig »ein paar Juden erhängt« habe, streitet Beitz vor den Augen des Jungen um jedes einzelne Leben – und nun, da der Name Linhard aufgerufen wird, um das von Salek. »Wer ist denn der?«, bellt der Offizier. Beitz: »Der gehört auch zu mir.« – »Das geht nicht, er steht nicht auf der Liste.« Beitz gibt Widerworte, Gschwendtner studiert die Liste, unwillig blickt er auf die lange Reihe der anstehenden Juden. Jitzhak Linhard zieht den Sohn geistesgegenwärtig einfach mit in die Gruppe der Geretteten, Salek schaut zurück. Aber Gschwendtner ist längst von neuen Namen abgelenkt und kümmert sich nicht mehr um ihn. Salek zählt rund 220 Menschen, die Beitz aus der Halle geholt hat. Sie haben es geschafft, für dieses Mal.
    Die beiden Linhards bringt Beitz kurzerhand bei sich daheim unter, denn noch läuft die »Aktion«. Seinem Fahrer sagt er: »Bring sie bitte in mein Haus.« Er selbst kehrt zurück an den Bahnhof. Salek erscheint die Rettung wie ein unwirkliches Märchen: Eben noch hat er dem Tod ins Angesicht gesehen, nun bekommen sie zu essen. Frau Beitz bringt ihnen Kopfkissen und Decken. Und vielleicht noch wichtiger, so empfindet es der Junge, ist das Mitgefühl, das sie ihnen entgegenbringt. Nach drei Tagen kommt Berthold Beitz zu ihnen, bleich und mit zerfurchtem Gesicht. »Sie sind weg«, sagt er, »die Aktion ist vorbei.«
    Auch Anita Lauf hat die Aktion überstanden. Die Menschenjagd ist an dem Haus der Familie Lauf, das weit außerhalb der Stadt liegt, vorbeigegangen. Aber Anita vermisst ihre Tante, Lizzy Lockspeiser. Ihre Mutter Else arbeitet bei der Karpathen-Öl, und sie hat ihrer Schwägerin Lizzy, der Frau ihres Bruders Hermann, ebenfalls einen Job bei Beitz verschafft: »Dort bist du sicher.« Lizzy und Hermann sind 1938, nach dem »Anschluss«, aus Österreich nach Boryslaw gegangen. Doch Lizzy wird nun beim Firmengelände aufgegriffen und mit den anderen Juden zum Bahnhof getrieben. Offenbar helfen deutsche Beschäftigte der Ölgesellschaft der SS , indem sie Hinweise auf Juden geben. Ein Angestellter namens Pietz informiert wiederum Beitz, und wie andere Familienangehörige bittet auch Hermann Lockspeiser ihn, seine Frau herauszuholen. »Ich werde tun, was ich kann«, sagt Beitz.
    Der Fall Lizzy Lockspeiser ist von besonderer Tragik. Ihr Name gehört zu jenen, die Beitz im Chaos auf dem Bahnsteig immer wieder laut ruft. Und es muss sich eine Frau gemeldet haben, die dann aus dem Waggon geholt wurde. Jedenfalls erinnert sich Anita Lauf, dass die Familie im Lauf des Tages eine Botschaft von Beitz erhielt: »Die Lockspeiser habe ich.« Die ungläubige Freude der Familie weicht dem erneuten Schock, als Lizzy nicht auftaucht. Sie war nicht die gerettete Frau. »Herr Beitz kannte Lizzy Lockspeiser ja nicht«, sagt Anita Lauf heute, »er trägt keine Schuld – schließlich hat er alles versucht, um sie zu retten.« Aber es soll nicht sein. Die Spur der Tante verliert sich im Vernichtungslager. Für die Nichte ist ihr Schicksal der Inbegriff der jüdischen Tragödie: Nur drei Jahre zuvor, im Frühling 1938, waren Lizzy und Hermann zu Besuch nach Wien gekommen, tief gebräunt vom Skiurlaub in Kitzbühel, glücklich und frisch verheiratet, junge Menschen in einem ganz normalen Land, die das Leben genießen. Doch Lizzy Lockspeisers Leben haben die Mörder nun genommen.
    Beitz ist auf dem Bahnhof von Boryslaw bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten gegangen. Er hat viele retten können und manche nicht: die Sekretärin, ihre Mutter, Frau Lockspeiser.

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