Berthold Beitz (German Edition)
entscheiden. Dieses grausame Todesspiel, das einen Menschen zwingt, ganz bewusst eines seiner Kinder zu opfern, ist auch von anderen SS -Männern im Osten bezeugt. Was die Täter dabei empfinden, vielleicht den Genuss entgrenzter Macht über andere, muss ein Rätsel bleiben. Die fassungslose Mutter wählt eines ihrer Kinder aus, das andere wird ihr dann sofort entrissen. All die »nicht Arbeitsfähigen« werden schließlich im nahen Wald von Bronica erschossen. Wenige Wochen später wird Friedrich Hildebrand offiziell Kommandant der beiden Zwangsarbeiterlager.
Kurz darauf, am 10. Juli, rettet Berthold Beitz, der natürlich schon von Hildebrand gehört hat, den 22-jährigen Markus Greber, einen jüdischen Arbeiter einer Kistenfabrik. Hildebrand erklärt deren Belegschaft für »nicht kriegswichtig« und lässt sie erschießen. Greber aber kann gerade noch entkommen und flüchtet zu Leon Morski, dem Bäcker bei der Karpathen-Öl. Der wiederum bittet Beitz um Hilfe, und der Direktor stellt Greber als »Bauarbeiter« ein.
Die Spielräume für die Rettung von Menschen werden 1943 enger und enger. Beitz erfährt jeden Tag mehr die Grenzen seiner Macht. In dieser Lage findet er ausgerechnet in Friedrich Hildebrand einen Hebel, um weit mehr für die Verfolgten zu erreichen, als ihm alleine möglich wäre. Fast alle noch lebenden Juden von Boryslaw sind im Zwangsarbeiterlager untergebracht, und über ihr Schicksal entscheidet der Lagerleiter, eben jener Hildebrand. Das Firmenlager ist beinahe ein »Fluchtpunkt«, den zu bewahren nur einem Unternehmen von der Bedeutung der Karpathen-Öl möglich ist. Janek Bander und Ludwig Hiss hat Beitz offensichtlich über direkte Intervention bei ihm freibekommen, obwohl er die beiden praktisch nicht kannte. Beitz erkennt die psychologische Schwachstelle des SS -Mannes. Irgendwo tief drinnen muss bei Hildebrand, den angesichts der ersten Erschießungen noch »das Grauen« gepackt hat, ein Rest von Gewissen sein, vor allem in stillen Stunden, wenn er nicht im Rudel der SS -Leute steht. Der Öldirektor, dem SS -Lagerchef intellektuell weit überlegen, baut eine Art Beziehung zu ihm auf, als er bemerkt, dass Hildebrand in gewisser Weise zu ihm aufschaut. »Er war ein sehr einfacher, ja dummer Mensch. Es war nicht so, dass er Wachs in meinen Hand gewesen wäre; aber er hat sehr oft gemacht, was ich ihm gesagt habe. Er hat mich irgendwie bewundert.« Vielleicht spürt Hildebrandt in dem anderen eine moralische Überlegenheit, die ihn trotz aller Gefühlskälte nicht unberührt lässt. Vielleicht ist es auch eine Art gespaltener Persönlichkeit bei dem SS -Untersturmführer, der einerseits am Schlachthof Exekutionen überwacht, in Beitz’ Nähe aber verschüttete Züge seines Wesens wiederentdeckt. In jedem Fall kann er sich, wenn er Beitz hilft, selbst bescheinigen, ebenfalls moralisch zu handeln – eine von außen gesehen perverse, für Hildebrand aber womöglich entscheidende Logik. Er lässt zu, dass Beitz für erträgliche Zustände unter seinen Arbeitern im Lager sorgt, etwa durch ausreichendes Essen aus der Werkskantine, denn die offiziellen Rationen für Juden reichen zum Überleben nicht. Die schmutzigen Dinge überlässt er in Boryslaw gern seinen Leuten. Später vor Gericht wird Hildebrand ganz ernsthaft behaupten, er habe sich »in Boryslaw stets bemüht, meine menschliche Seite zu zeigen«.
Für Beitz bietet Hildebrand eine einmalige Gelegenheit. Er hält ihn, gewiss, für einen Mörder und einen Mann von sehr geringem Verstand. Erstmals aber vermag er einen der wichtigsten Handlanger des Regimes in Boryslaw in seinem Sinne zu beeinflussen und mit dessen Autorität im Apparat der Nazis Dinge zu bewegen, die ihm sonst unmöglich gewesen wären. Er selber könnte schwerlich zu Nemec gehen und die Freilassung zweier Halbwüchsiger wie Bander und Hiss aus dem Gefängniskeller fordern. Hildebrand dagegen genügt dafür ein Anruf.
Und da ist zum Beispiel die Geschichte mit Hilde Berger. Es ist eine Geschichte, die Beitz sehr viel später häufig erwähnen wird, weil sie ein Schlaglicht auf die Umstände wirft, unter denen er in Polen handeln musste. Dass er sie, die Jüdin, überhaupt als Verwaltungsangestellte und nicht direkt in der Rüstungsproduktion beschäftigt, ist 1943 bereits untersagt. Darüber hinaus erlaubt er ihr wie den anderen Juden, das Stigma, den obligatorischen gelben Stern, im Büro abzulegen. So kommt es, dass Hildebrand, der in Oberschlesien übrigens eine Frau
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