Berthold Beitz (German Edition)
hat: »Ihr Bruder ist nicht mehr sicher. Ich weiß es aus einer sehr zuverlässigen Quelle.« Jitzhak Linhard warnt den Bäcker, aber der will das Wagnis einer Flucht mit Familie nicht eingehen. Wenige Tage später wird der Bruder ermordet, ein Unbekannter schießt abends durch das Fenster. Die Schutzpolizei deportiert anschließend die Frau und die beiden Töchter; Linhard gelingt es nur, eines der Mädchen, Batja, wieder freizubekommen.
Oft flehen verzweifelte jüdische Angestellte Beitz um die Rettung von Angehörigen und Freunden an. So auch im Fall von Janek Bander und Ludwig Hiss. Letzterer ist der beste Freund von Jurek Rotenberg; er hat als Kind gleich nebenan gelebt und das Klavierspiel von Anna Rotenberg durch die dünnen Wände der elterlichen Wohnung gehört.
Die beiden Jungen haben in einer kleinen Scheune eine doppelte Wand aus Holzlatten gezimmert und so einen hohen Zwischenraum geschaffen, der sich von innen verschließen lässt. Ganz oben schieben sie als Zwischendecke Bretter hinein, auf denen sie tagsüber liegen. Selbst wenn die falsche Wand entdeckt wird, scheint so der Raum dahinter leer zu sein. »Die Deutschen haben jede Nacht gesucht«, sagt Janek Bander heute, »und dann kamen sie ganz nahe.« Er hört das Gebrüll: »Wo sind die Juden?«
Durch die kleinen Spalten zwischen den Holzlatten sehen sie die Lichtkegel der Taschenlampen, mit denen die Verfolger den Raum durchsuchen. Er scheint leer zu sein, aber die SS -Männer bleiben und beraten sich. Warum gehen sie nicht weg?, denkt Janek. Dann sagt eine Stimme: »Hier ist keiner. Wir können weitergehen.« Die Versteckten atmen auf: Das war Bernard Eisenstein, der Leiter der »jüdischen Polizei«. Doch auf einmal zerrt jemand an den Latten, die schließlich nachgeben – der Blick in den Hohlraum ist frei. Ein SS -Mann leuchtet hinein: »Keiner drin.« Wird der Trick funktionieren? Kommen sie noch einmal davon?
Doch da ruft eine Frau: »Das ist doch nicht möglich! Sie müssen da drin sein. Sehen Sie doch, die Bretter wurden von innen verriegelt.« Jetzt leuchtet der Mann auch nach oben – die Jungen sind entdeckt und werden heruntergezerrt. Die Frau, stellt Janek mit Entsetzen fest, ist eine Jüdin aus Boryslaw, die von ihrem Versteck gewusst und die Menschenjäger hergeführt haben muss. Sie sieht ihn nicht an, als er unter Prügeln und Tritten aus der Scheune geführt wird.
Man bringt die beiden Jungen ins Gebäude der ukrainischen Polizei, in einen der früheren NKWD -Folterkeller, wo der Leidensweg der Boryslawer Juden zwei Jahre zuvor begonnen hat. Der Boden ist mit stinkendem Wasser bedeckt, dreißig Juden sind zusammengepfercht. Über Stunden stehen und hocken sie dort, einmal mehr ohne Hoffnung. Zu den Eingeschlossenen gehört auch die jüdische Frau aus der Scheune. Ludwig Hiss ist zu schwach, um sie zu hassen. Er fragt nur resigniert: »Warum hast du das gemacht? Warum hast du uns verraten?« Es stellt sich heraus, dass die Deutschen sie, wie sie das nennen, als »jüdischen Greifer« benutzt haben: Wenn du uns hilfst, lassen wir dich leben. Sie werden ihr Versprechen nicht halten.
Am Nachmittag reißt einer der Ukrainer die Eisentür auf: »Bander! Hiss! Zu Nemec, kommt!« So schlecht ihre Lage auch ist – eine Vorladung zu Nemec bedeutet, dass es immer noch schlimmer kommen kann. Er holt uns zu seinem Vergnügen, denkt Bander, um uns zu quälen, bevor er uns umbringt. Jeder weiß, dass Nemec ein Psychopath ist, der im »Colosseum«-Kino eingesperrte Juden nur zum Spaß erschossen und sich an der Angst der Opfer geweidet hat, wer wohl als Nächster an die Reihe komme. Mit klopfendem Herzen steigen sie die Treppen im Polizeigebäude hoch. Der feiste Wiener erwartet sie bereits in seinem Büro.
Bei ihm ist der Dolmetscher, der Wiener Dr. Reizses. Er ist, was die Jungen nicht wissen, mit Beitz gut bekannt und arbeitet öfter für ihn; er wird den Krieg überleben. Nemec fragt Janek Bander auf Deutsch: »Willst du leben?« – »Ja, Herr.« Der Wiener grinst: »Warum eigentlich?« Janek sagt: »Ich bin noch jung.« Ludwig tritt nervös von einem Fuß auf den anderen und will etwas sagen, aber der Polizeichef schlägt ihn brutal: »Halt dein Maul!« Er starrt die beiden an, dann macht er unverhofft eine abfällige Handbewegung zu Reizses: »Schick sie weg, sie sollen weg!« Sie wissen nicht, wie ihnen geschieht, bis sie sich draußen vor der Eingangstür wiederfinden. »Lauft«, sagt der Dolmetscher eindringlich, »lauft zur
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