Berthold Beitz (German Edition)
niederschreibt. Erstarrt verfolgt er, wie zuletzt ein kleines jüdisches Mädchen erschossen wird: »Da sinkt ein Schleier, zart gemustert, von einzelnen blassen Schneeflocken, als flüstere irgendwo jenseits der Grenzen des stummstockenden Himmels sich das Wörtchen: Gnade. Es schneit. Einer der Schützen beugt sich über das Kind. Die Kleine wird noch während ihrer Ohnmacht erschossen. Das ist die Gnade.« Der Soldat hastet entsetzt davon, vor den Schuldgefühlen aber wird es für ihn kein Entkommen geben: »Er rennt, er rennt, der feige Herr aus Deutschland, rennt zu den Bahndämmen.« Und meldet bei seiner Kompanie: »Auf Wache nichts Neues!« – »Danke, alles in Ordnung, Willms?« – »Jawohl, Herr Hauptmann!«
Beitz läuft nicht davon. Manchmal, wie am Bahnhof 1942 oder im »Colosseum«-Kino 1943, holt er Dutzende, ja Hunderte Menschen wieder heraus. Aber an den meisten anderen Tagen ist es ein zähes, kraftraubendes Ringen um jedes einzelne Leben. Um das von Janek Bander, um das von Jurek Rotenberg, um das von Ludwig Hiss, die er alle gar nicht kennt, Kinder von Mitarbeitern, die sich in ihrer Not an ihn wenden. Niemals kann er vorhersagen, ob er diesen Kampf um jedes Leben gewinnen wird oder nicht – oft genug kann er ihn gar nicht gewinnen. Aber eines kann er nachher von sich behaupten, oder lassen wir es Janek Bander für ihn sagen: »Wenn ich eines weiß, dann das: Herr Beitz hat wirklich alles versucht, um uns zu helfen.« Er hat viele nicht retten können, das treibt ihn noch immer um. Manchmal aber gelang es gegen alle Wahrscheinlichkeit: »Das tröstet mich bis heute.«
Er ist allein, als er vor wütenden SS -Männern steht, sie herausfordert, als er nicht nachgibt, was auch immer sie sagen und wie laut sie auch brüllen. Beitz spürt instinktiv, wie er Macht über seine Widersacher gewinnen kann, psychologische Macht, denn eine andere hat er nicht. Evelyn Döring, eine seiner wenigen Vertrauten in dieser Welt ohne Vertrauen, hat das so beschrieben: »Die SS -Männer standen wie erstarrt irgendwie machtlos dieser überwältigenden Persönlichkeit – und Herr Beitz trug doch zivil! – gegenüber. Ein anderer wäre an seiner Stelle glatt von der SS erschossen worden. Wer diese Zeit nicht miterlebt hat, kann sich kaum ein Bild davon machen, in welcher Lebensgefahr Herr Beitz geschwebt und seine Getreuen geschwebt haben.«
»Ich stand auf dem Bahnsteig und spürte so etwas wie eine große innere Sicherheit«, sagt Beitz heute, »wenn ich Angst gehabt hätte, wäre ich verloren gewesen. Ich durfte keine Angst haben, und ich hatte sie auch nicht.« Er tut das Richtige, und dafür muss er handeln, sofort, hart und entschlossen. »Das war das Wichtigste, entschieden zu handeln und nicht lange zu überlegen: Was soll ich nur tun, da steht die SS , daneben die Polizei, wie gefährlich ist das denn jetzt? Nein, ich bin ganz kühl und kalt geblieben.« Er weiß selbst nicht recht, warum. Im Jahr 2009 erzählt er einmal jungen Auszubildenden einer Geschichtswerkstatt von ThyssenKrupp von Boryslaw. Es wird ganz still im Raum, als er am Ende wie zu sich selbst sagt: »Es war, als ob eine andere Person neben mir gestanden hätte, ein anderer Berthold Beitz. Als ob ich gar nicht ich selber gewesen sei.« Aber vielleicht ist es in Boryslaw auch gerade umgekehrt: Vielleicht ist er gerade dort ganz er selbst.
Er ist in Boryslaw auch äußerlich eine beeindruckende Erscheinung: groß, blond, blauäugig, gut gekleidet, ein Mann, der seinem Gegenüber unbeirrt in die Augen blickt und nicht erkennen lässt, was in ihm vorgehen mag. Nicht wenige höhere SS -Offiziere, die ja oft selbst keineswegs ihrem Idealbild der »arischen Rasse« entsprechen, dürften sich wünschen, sie sähen so aus. Er strahlt, kaum dreißig Jahre alt, eine Autorität aus, die sie erst durch Macht, Gewalt und Peitschenhiebe zu erzwingen versuchen.
Vom einfachen Chargen bis zum mächtigen SS -Sturmbannführer – sie alle sind es gewohnt, Furcht zu verbreiten, die Stärkeren zu sein, die Demut, die Angst, die Unterwerfung anderer zu erleben. Bei Beitz ist es anders: Ihn umweht der Nimbus, er genieße die Protektion mächtiger Gönner im Reich, und deshalb wagen sie es nicht, ihn anzurühren. Er nutzt das für seine Rettungsaktionen, und im Rückblick sagt er: »Ich kenne die Deutschen. Wenn man fest, klar und bestimmt auftritt, dann respektieren sie einen. Wenn man weich ist oder verzweifelt, bringen sie einen um.« Er ist bis an die Grenzen
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