Berthold Beitz (German Edition)
MILITÄRJUSTIZ
Mitten im Zusammenbruch lernt der Feldwebel Beitz die Diktatur noch einmal in ihrer ganzen Inhumanität kennen. SS -Leute und fliegende Standgerichte der Wehrmachtsjustiz ermorden noch kurz vor der Kapitulation Tausende deutscher Soldaten als »Fahnenflüchtige«. Die Wehrmachtsjustiz lässt mindestens 22 000 Todesurteile vollstrecken, überwiegend gegen echte und vermeintliche Deserteure. Zum Vergleich: In der kaiserlichen Armeegerichtsbarkeit des Ersten Weltkriegs waren es 48 Todesurteile, meistens wegen schwerer Straftaten. Nur in Stalins Armee hat der Terror nach innen ähnliche Ausmaße wie im Dritten Reich. Nach dem Krieg werden die Täter ungerührt so tun, als sei es völlig normal und legitim gewesen, Tausende eigener Soldaten umzubringen.
Beitz erlebt das bereits im April 1945 in Spandau, als sich seine Kompanie für die Schlacht um Berlin bereitmachen soll. Er ist der beste Schütze im Regiment, einmal hat er sogar einen Preis gewonnen für die meisten Treffer auf 300 Meter, das Gewehr im Liegen aufgelegt. Deswegen kommt nun sein Spieß, ein Oberfeldwebel, auf ihn zu: Es werden unter den Feldwebeln und Unteroffizieren Schützen gesucht, in Lichterfelde wird ein Exekutionskommando zusammengestellt, um Deserteure zu erschießen. Und er, Beitz, soll diesem Kommando angehören.
Beitz aber weigert sich. »Ich habe ihm gesagt: Nein. Nein, das mache ich nicht. Ich erschieße nicht einfach so Leute.« Der Oberfeldwebel mag es kaum glauben und bedrängt ihn: »Mann, Beitz, mach das doch.« 2,5 Millionen sowjetische Soldaten und mehr als 6000 Panzer und Sturmgeschütze rücken auf Berlin vor. Aber die größte Sorge des Mannes scheint zu sein, dass seine Kompanie schlecht dasteht, wenn es um die Abordnung von Todesschützen zu einem Exekutionspeloton geht. Das Regiment hat angeordnet, dass jede Kompanie einen höheren Dienstrang, einen Feldwebel oder Unteroffizier, als Schützen bereitstellen muss. Beitz ist noch im Rückblick von mehr als sechzig Jahren sichtbar erschüttert. »Aber ich habe ihm gesagt: Hör mal zu, das kommt gar nicht in Frage.« Dabei bleibt es. Es ist Beitz deswegen nichts geschehen. Wieder einmal hat er auf seine innere Stimme gehört, sich nicht wider das eigene Gewissen zu fügen. »Es herrschte damals in Berlin eine äußerst nervöse Stimmung. Aber es gibt im Leben Momente, in denen man den Mut haben muss, nein zu sagen.«
Und dann fehlt nicht viel, und Beitz wäre selbst zum Opfer der Militärjustiz geworden. Nachdem sie dem russischen Klammergriff um die Reichshauptstadt gerade noch entronnen sind, trifft seine Kompanie bei Forchheim erstmals auf Amerikaner. Es kommt zu einem nervösen Nachteinsatz, und am nächsten Morgen kehren die Soldaten zu ihrem Quartier zurück. Die dann folgende Szene sieht Berthold Beitz noch heute so genau vor sich, als habe sie sich eben erst abgespielt. »Wenn es in meinem Leben jemals einen Moment gab, in dem mir wirklich nichts mehr eingefallen ist, dann war es dort. Ich war vollkommen baff.«
Vor die abgekämpften Soldaten, nicht mehr als ein halbes Dutzend Männer, fährt ein Wagen vor: ein Unteroffizier als Fahrer, ein Leutnant und ein Oberleutnant, der das Deutsche Kreuz in Gold auf der Brust trägt. Kalt mustert Letzterer die kleine Truppe. Beitz meldet: »Feldwebel Beitz, Führer der 12. Kompanie, vom Nachteinsatz zurück.« Der Oberleutnant sagt statt einer Antwort: »Sie haben sich ohne Befehl vom Feind gelöst. Ich stelle sie vors Kriegsgericht.« Berthold Beitz mag es nicht glauben, so wie es viele Soldaten nicht glauben können, die eine entfesselte Militärjustiz vor die Gewehrläufe eines Erschießungskommandos stellt. Er, der auf dem Bahnsteig von Boryslaw die Offiziere der SS herausgefordert hat, weiß nicht, was er sagen soll. Da spürt er neben sich eine Bewegung. Sein Kompanietruppführer ist neben ihn getreten, ein großer Mann, Schmiedegeselle aus Pommern; an der Brust trägt er das Deutsche Kreuz in Gold, außerdem die Nahkampfspange, die Verwundetenauszeichnung. Noch bevor die Männer im Jeep reagieren können, nimmt er seine Maschinenpistole von der Schulter, kippt mit vernehmlichem Klacken die Sicherung fort, stößt den erstarrten Beitz leicht mit dem Arm an und fragt ganz ruhig: »Soll ich sie umlegen?«
Noch ehe Beitz etwas sagen kann oder der Schmied abdrückt, wendet der Fahrer den Wagen und jagt davon. In diesem Moment ist der Krieg für Berthold Beitz vorbei. Er sagt seinen Männern, sie sollen heimgehen.
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