Berthold Beitz (German Edition)
die Zerstörung der Stadt nach sich ziehen würde; also schickt er den Russen Parlamentäre entgegen und bietet einen Handel an: kampflose Übergabe gegen Schonung der Stadt und ihrer Bewohner. Die sowjetischen Offiziere willigen ein, und Petershagen und seine Offiziere warten mit entsicherten Waffen, für den Fall, dass doch noch ein Exekutionskommando der SS der Roten Armee zuvorkommen sollte. Schließlich aber rücken die Russen am 30. April ein, die Stadt wird kampflos übergeben.
Was sich in den Dörfern der Umgebung und der Nachbarstadt Anklam abspielt, gleicht den apokalyptischen Szenen der Gemälde von Hieronymus Bosch: geplünderte, eingeäscherte Güter, Massenvergewaltigungen, Morde und brennende Häuser; Hunderte missbrauchte Frauen, die sich das Leben nehmen. Wenn auch Greifswald von der Racheorgie halbwegs verschont bleibt, ist die russische Besatzung dennoch hart, und auch Else Beitz erlebt fürchterliche Wochen: Alle sind in Angst, denn nachts holt der Geheimdienst Bürger aus ihren Häusern, darunter auch Elses Schwiegervater Erdmann Beitz, der als Beamter der Reichsbank, wo er zuletzt gearbeitet hat, offenbar als gefährlicher Kapitalist gilt und ins NKWD -»Speziallager« Fünfeichen am Ortsrand von Neubrandenburg verschleppt wird. Zuvor hat er, korrekt wie stets, den Sowjets den Tresor der Bank in Greifswald geöffnet – in dem auch seine eigenen Ersparnisse lagen. In Fünfeichen, einem früheren deutschen Kriegsgefangenenlager, haben die Besatzer Nazis und Verdächtige, willkürlich Verhaftete und Denunzierte, Gutsbesitzer und Verwaltungsangestellte, ja Jugendliche eingekerkert, in vielen Fällen unabhängig von jeder persönlichen Schuld oder Unschuld. Es herrschen furchtbare Zustände. Unterernährung, Krankheiten und Kälte kosten bis 1948 über 5000 Menschenleben. Nach einem halben Jahr lassen die Sowjets Erdmann Beitz frei. Abgehärmt undum Jahre gealtert kehrt er heim nach Greifswald. »Meine Mutter«, sagt Beitz im Rückblick, »hat später erzählt: Er kam nach Hause, mit seinem Kochgeschirr. Er hat nichts erzählt, doch er stand über Stunden am Fenster und sah stumm hinaus.« Aber Erdmann Beitz ist davongekommen.
Im Spätsommer 1945 gelingt es der schwangeren Else Beitz unter dramatischen Umständen, mit Tochter Barbara in den Westen zu kommen. Mit einem Strom von Flüchtlingen gelangen sie an die Sektorengrenze, ein kleiner Fluss trennt sie noch von der britischen Zone. Eine hilfreiche Frau setzt die kleine Barbara in das Boot, das die erste Fuhre hinüberbringt. Aber bevor die Mutter einsteigen kann, wird sie von sowjetischen Soldaten aufgehalten. Sie dürften nicht hinüber, sagen sie zu den verängstigten Frauen am Ufer. Nur weil Else Beitz immer wieder auf Barbaras Puppe zeigt, die sie oben auf ihrem Rucksack festgebunden hat, kann sie einem mitleidigen Rotarmisten klarmachen, dass ihr Kind schon auf der anderen Seite des Flusses ist. Er lässt sie übersetzen, doch für einige schreckliche Stunden glaubt sie, das Kind verloren zu haben. Wie sich herausstellt, ist Barbara von den Engländern in Obhut genommen worden, die das Kind nach einigem Zureden der Mutter zurückgeben. In Hamburg ist die Familie endlich wieder vereint. Im Oktober kommt die zweite Tochter zur Welt, Susanne. In der Wandsbeker Nothütte der Eltern wird es nun noch enger. Im Sommer 1945 verdingt sich Berthold Beitz als Landarbeiter, um etwas Geld zu verdienen. Im folgenden Jahr handelt er mit Konserven; für kurze Zeit erwägt er sogar, in Bardowick bei Lüneburg eine eigene Konservenfabrik aufzubauen.
»MENSCH BERTHOLD!«
EIN FOLGENREICHES WIEDERSEHEN
Aber dann kommt es 1946 zu einer wahrlich schicksalhaften Begegnung. Beitz geht gerade am Hotel »Esplanade« entlang, dem Sitz der britischen Besatzungsverwaltung, da kommt, an den Wachposten vorbei, eine junge Frau mit feuerrotem Haar heraus. Verblüfft schauen die beiden sich an. Es ist Evelyn Döring, Elses Freundin und Verbündete der Beitzens in Boryslaw. Sie hatte dort, wie geschildert, noch einige Wochen den letzten der rettenden Stempel genutzt, den sie nach Beitz’ Einberufung heimlich an sich nahm, und ist dann rechtzeitig vor der anrückenden Roten Armee in den Westen geflohen. Nun arbeitet sie als Dolmetscherin bei den Briten.
Evelyn Döring ist es nun, die kurz darauf mit einer Nachricht für Berthold Beitz im Krämerladen der Siedlung anruft: Major Jones möchte ihn kennenlernen. Der britische Offizier ist dabei, ein Amt zur Aufsicht der
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