Berthold Beitz (German Edition)
Entscheidung aus dem Bauch heraus – für einen Posten, der ihm garantierte, was ihm so überaus wichtig ist: die Freiheit des Handelns, die ihm die Vollmacht über den Großkonzern bieten wird.
Der Spaziergang, der aus Beitz einen der wichtigsten Industriellen der Bundesrepublik machen wird, hat übrigens keine Viertelstunde gedauert. Als die beiden durchnässten Männer zurück in das Restaurant des »Vier Jahreszeiten« treten, spielt die Kapelle einen Tusch. Es wirkt fast so, als gratulierten die Musiker. »Was ist los?«, fragt Krupp verblüfft. Berthold Beitz lacht: »Ich habe heute Geburtstag.«
Er hatte an sich nicht so lange bleiben wollen. Aber nun sitzen sie noch lange beisammen: Beitz, Krupp, Sprenger und andere. Es ist nach zwei Uhr, als Beitz nach Hause kommt. Else Beitz, die mit ihrem Mann am nächsten Abend seinen Geburtstag feiern will, ist wenig erbaut: »Wo kommst du denn jetzt her? Wir haben heute Gäste zu deinem Geburtstag eingeladen.« Worauf Beitz antwortet: »Ich will dir noch etwas sagen: Wir gehen nach Essen.«
Er ist jetzt 39 Jahre alt und dachte, es eigentlich schon weit gebracht zu haben. Dabei hat seine Karriere eben erst begonnen.
Beitz in Essen: »Was Krupp nicht sagt, sage ich«
»UND JETZT DEN DECKEL DRAUF!«
So etwas haben die Direktoren und Bergassessoren noch nicht gesehen. Sie kannten Geschütze und Lokomotiven, Panzer und Schiffe – alle geschaffen aus Kruppstahl. Aber hier, in der großen Essener Werkshalle, steht nun im Jahr 1959 eine metallisch glänzende Kugel von zweieinhalb Metern Durchmesser mit einem kleinen Rundfenster – ein Objekt, das wirkt, als sei es einem Comic-Heft mit Weltraumabenteuern entsprungen, die man neuerdings am Kiosk kaufen kann. Dabei trägt es die irdischen drei Ringe mit dem Namen des Erbauers: »Fried. Krupp.« Die Tiefsee-Tauchkugel ist mit Krupp’scher Perfektion so entworfen, dass sie noch 22 Kilometer unter dem Meeresspiegel dem Wasserdruck standhalten würde – und kein Ozean der Welt ist so tief. Ein Jahr später sinken der Schweizer Meeresforscher Jacques Piccard und der amerikanische Marineleutnant Don Walsh damit in die nachtschwarze, unerforschte Welt des pazifischen Marianengrabens, auf 10 910 Meter unter dem Meeresspiegel – so tief wie kein Mensch vor oder nach ihnen.
Zur Runde in Essen tritt nun Berthold Beitz, in elegantem Anzug und Weste, mit Krawatte und Einstecktuch, jugendlichem Habitus und lockerem Auftreten, das volle Haar nach hinten gekämmt. An die überwiegend grauhaarigen Herren gewandt, deren Begeisterung sich erkennbar in Grenzen hält, fragt er: »Na, war schon mal einer drin?« Die Stahldirektoren schütteln den Kopf. »Na dann«, sagt Beitz, zieht das Jackett aus und klettert in weißem Hemd und dunkler Weste in die Stahlkugel hinein, zur Freude der Fotografen. Kaum ist er drinnen verschwunden, murmelt einer aus dem Kreis der leitenden Krupp-Veteranen vernehmlich: »Und jetzt den Deckel drauf, die Gelegenheit ist günstig.«
EIN EMPFANG, SO KALT WIE EIS
30. Oktober 1953. Mehr als ein Jahr ist vergangen seit jener Geburtstagsnacht, in der Berthold Beitz seine Frau Else mit der Nachricht weckte, man werde bald nach Essen umziehen. Froh hat sie das nicht aufgenommen. Als Beitz am Essener Hauptbahnhof aus dem Schnellzug steigt, weiß er eines ganz genau: An diese neue Heimat wird er sich gewöhnen müssen. Es sind die Jahre, als der Pott noch – oder damals: gerade wieder – kocht. So sagt man an der Ruhr.
Gewiss, im von Bomben verwüsteten Zentrum Essens entwickelt sich eine neue City, werden Warenhäuser gebaut und Bürogebäude. Das Herz der Stadt aber schlägt im Rhythmus der Schwerindustrie, so wie es das seit 1850 immer getan hat. Schwaden von Kondenswasser wehen wie Nebel um die gigantischen Kühltürme der Kokerei Zollverein. Über die dunklen Backsteinhäuschen der Arbeitersiedlungen in Altenessen ragen die Fördertürme und Schlote wie mittelalterliche Trutzburgen.
Die Stadt selbst ist vom Krieg schwer gezeichnet. Als in den Kriegsnächten immer öfter die Sirenen geheult und die Lichtfinger der Flakscheinwerfer nach den Bombern am Himmel gesucht hatten, kursierte in der Arbeiterschaft ein spöttisches Bittgedicht: »Ach, lieber Tommy, flieg doch weiter! Hier sind nur die Ruhrarbeiter. Flieg doch weiter, bis Berlin! Die haben viel lauter geschrien!«
Ihre Bitte wurde nicht erhört. Im Mai 1945 ist der innere Bereich Essens zu 90 Prozent zerstört, mehr als zwölf Millionen Kubikmeter Schutt
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