Beruehre meine Seele
kroch sie normalerweise sogar noch auf dem Zahnfleisch in die Schule.
„Liegt anscheinend noch flach“, vermutete Em, als Mr Beck die Anwesenheitsliste aus der Schublade hervorzog und anfing, sie durchzugehen. Emma faltete ein nur zur Hälfte beschriebenes Blatt Papier auseinander und sah mich hoffnungsvoll an. „Hast du zufällig die Hausaufgaben gemacht?“
Ich verdrehte die Augen und holte mein Heft aus der Tasche. „Wie war das gleich noch mit deiner brennenden Leidenschaft für die wunderbare Welt der Zahlen?“
„Das ist echt eigenartig, weißt du? Die erlischt einfach, sobald ich durch das Schultor gehe und den süßen Duft der Freiheit einatme. Puff, weg.“
„Kaylee Cavanaugh?“, hörte ich Mr Beck meinen Namen sagen. Erschrocken blickte ich hoch, davon überzeugt, wir seien beim Schummeln erwischt worden. Doch er stand einfach nur neben seinem Tisch, die Anwesenheitsliste in der Hand, und wartete auf meine Antwort.
„Oh. Hier“, meldete ich mich hastig, und er war bereits drei Namen weiter, als plötzlich die Tür aufging und Danica Sussman den Klassenraum betrat. Sie sah elend aus, das Gesicht ganz blass, bis auf die dunklen Ringe unter ihren Augen, die sie nicht einmal versucht hatte zu kaschieren.
„Danica, ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Mr Beck besorgt, doch sie nickte tapfer und ging mit einem blauen Entschuldigungszettel zu ihm nach vorn.
„Mir geht’s gut.“ Sie gab ihm den Zettel, woraufhin Mr. Beck ihn zusammenknüllte und die Papierkugel in den Mülleimer warf.
„Ich habe dich noch gar nicht aufgerufen, also kommst du rein technisch gesehen auch nicht zu spät“, erklärte er, wobei sein Stirnrunzeln verriet, dass er Danicas Beteuerung, sie sei okay, nicht so recht glaubte.
„Danke, Mr B.“, sagte sie lächelnd. Sobald sie sich jedoch umgedreht hatte und zu ihrem Platz ging, presste sie mit schmerzerfülltem Gesicht heimlich die Hand auf den Bauch.
Ungefähr eine halbe Stunde später, während Emma die letzten Sätze ihrer Hausaufgaben hinkritzelte, ohne dabei auch nur für eine Sekunde ihre Augen von Mr Beck loszureißen, spürte ich auf einmal einen bekannten, stechenden Schmerz tief in meinem Hals aufkommen.
Nein! Mein Herz begann so heftig zu pochen, dass ich das Gefühl hatte, mein ganzer Körper würde vibrieren. Das konnte nicht wahr sein! Nicht hier, nicht jetzt. Nicht, nachdem vor gerade mal sechs Wochen drei Lehrer dieser Schule innerhalb von zwei Tagen aus dem Leben geschieden waren. Der vergangene Winter war für mich wie eine nahtlose Aneinanderkettung schrecklicher Todesfälle gewesen, die ich aufgrund meiner Gabe als Einzige voraussah, kurz bevor sie eintraten. Ich fand, ich hätte wirklich eine kleine Frühlings-Auszeit verdient gehabt.
Doch der Schrei einer Banshee entstand niemals grundlos, blinden Alarm gab es da leider nicht. Wann immer jemand in meiner Nähe kurz davor war zu sterben, stieg dieser unwiderstehliche Drang zu schreien in mir auf. Genau genommen bedeutete es, dass ich für die Seele des Sterbenden sang, was sich für Menschen aber leider wie schrilles Gekreische anhörte. Und der gellende Schrei, der sich in diesem Augenblick einen Weg die Kehle emporbahnte, konnte nur eines bedeuten.
Angestrengt biss ich die Zähne aufeinander, um den Schrei nicht nach außen dringen zu lassen. Mit den Fingern krallte ich mich rechts und links an den Ecken meines Tisches fest. So krampfhaft, dass ich ihn ungewollt ein Stück nach hinten zog und Emma verwundert hochsah, als sie das Quietschen hörte.
Sie warf einen kurzen Blick auf mein verkniffenes Gesicht und runzelte die Stirn. Schon wieder? , fragte sie lautlos, und ich antwortete ebenso still mit einem knappen Nicken. Zu mehr wäre ich in diesem Moment auch nicht fähig gewesen. Emmas Gesichtsausdruck wurde ernst. Sie hatte mich oft genug dabei beobachtet, wie ich den Drang niederkämpfte, für die Seele eines Sterbenden zu singen, und kannte die Anzeichen dafür. Zuerst war das Ganze ziemlich erschreckend für sie gewesen, was sich meiner Ansicht nach nicht hätte ändern müssen. Es gefiel mir nicht, dass sie diesen unsichtbaren Kokon des Todes, der mich und alles in meiner Nähe zu umgeben schien, mehr und mehr als Normalität empfand.
Und doch musste ich gestehen, dass es natürlich durchaus Vorteile hatte, wenn die beste Freundin Bescheid wusste. Wie zum Beispiel der Umstand, dass sie nicht in Panik geriet, während sie meinem nervösen Blick folgte, der über die Tischreihen
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