Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
auszunutzen. Ich neigte dazu, Sachen zu stehlen, Dinge einzuheimsen, ohne dass andere davon etwas mitbekamen. Es war wie eine Sucht, ein ständiger Drang, Gegenstände mitgehen zu lassen, die nicht mir gehörten. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich keine Schuld an meinem fehlerhaften Verhalten trug. – Nur selbstverständlich hat mich das nicht besonders beliebt gemacht. Meine Eltern haben sich für mich geschämt, dachten, sie könnten mich zur Vernunft bringen, indem sie mich bei jedem neuen Vergehen schlugen…« Er zuckte mit den Schultern, aber man sah ihm an, dass er es nicht auf die leichte Schulter nahm. »Tja, aber natürlich hat das alles nichts bewirkt, bis ich letzlich Reißaus genommen habe und dann hier gelandet bin.« Er lächelte schief und wir anderen nickten mitfühlend. Dann wollte er wissen, was es nun bedeute, ein Phantom zu sein.
Die Hexe winkte ab und behauptete, dass sie die Antwort selbst nicht genau wisse. Es sei nur eine Vermutung gewesen, aber sie könne es nicht mit Bestimmtheit sagen.
Seufzend ergab sich Ennyd seinem Schicksal, zu dem Crevi ihn verurteilt hatte.
Mein Schützling sprach die ganze Zeit über kein Wort und schaute auf ihre Schuhspitzen. Ich machte mir Sorgen um sie.
Erst als wir den Kanal verließen und durch die seichten Gewässer an die frische Luft stiefelten, zuckte Crevi merklich zusammen und schlang sich bibbernd die Arme um die Schultern.
Der Himmel spannte sich grau und schmutzig über unsere Köpfe und kündigte bereits das Ende der Nacht an. Waren wir wirklich so lange dort unten gewesen? Ich wusste es nicht, wusste nur, dass die Welt noch trostloser als zuvor wirkte. Seit sich Aimees und meine Wege getrennt hatten, hatte sie nie viel Farbe für mich enthalten, doch jetzt, da ich meinen Schützling unmittelbar in Gefahr wusste, wirkte sie in all der Hoffnungslosigkeit schlicht schwarzweiß.
Wir kletterten das steile Ufer hinauf, wobei äußerste Vorsicht geboten war. Endlich standen wir alle oberhalb der Böschung und blickten uns aufmerksam um.
» Crevi?«, fragte ich die junge Frau vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken. Ich trat auf sie zu, blieb aber in gebührendem Abstand zu ihr stehen.
» Hm?« Mit verkniffenem Gesicht drehte sie sich in meine Richtung. Der frische Wind blies ihr die Haare ins Gesicht und ließ sie noch heftiger erschaudern.
Wortlos zog ich meinen Mantel aus und reichte ihn ihr.
»D-d-danke«, stotterte sie und schlüpfte hastig in die Ärmel, knöpfte ihn bis oben hin zu. »Und du frierst nicht?«
» Nein, keine Sorge.« Ich winkte ab. »Du weißt, ich bin kein Mensch.«
Das quittierte sie mit einem stillen Zucken ihrer Mundwinkel.
Jetzt, nunmehr eine Viertelstunde und zwanzig Sekunden später, sitzen wir auf den morschen Holzbänken an einer Haltestelle. Wir warten auf die Rayne, die uns auf direktem Wege in Richtung Stadttor bringen wird – so unsere Hoffnung.
Jeder von uns ist angespannt und nervös.
Eine schlicht menschliche Reaktion in Anbetracht der Tatsachen.
Fast hätte mich dieser Gedanke zum Lächeln gebracht, aber die Schwermut vermag er nicht zu vertreiben.
Seufzend vergrabe ich mein Gesicht in den Händen und versuche, die Müdigkeit abzustreifen. Wir waren die ganze Nacht auf den Beinen und das, was wir erlebt haben, lastet bleiern auf unseren Schultern.
Crevi, in meinen schrägen Flickenmantel gehüllt, in dem sie geradezu versinkt, sitzt direkt neben mir und starrt auf einen Fleck irgendwo im nirgendwo, lethargisch, nachdenklich, versunken, als befände sie sich in einer gänzlich anderen Welt. Ich hoffe sehr, dass sie sich bald vom Schock der Erkenntnis erholen wird. Ich erinnere mich nur zu gut an ihre Ängste, von denen sie mir berichtet hat. Nie wolle sie zu einem unkontrollierbaren Monster werden, wie es ihr Vorgänger gewesen sein muss. Aber war ihr nicht eben genau dies passiert?
Zögerlich schicke ich mein Bewusstsein aus und streiche sanft über die Sphäre ihre Seele. Der Schmerz und die Verwirrung, die ich zu spüren bekomme, lassen mich innerlich zusammenzucken. Beruhigend fahre ich über ihren Geist und glätte die Wogen, die ihr Kopfzerbrechen bereiten.
Plötzlich dreht sie sich zu mir um und hebt eine Braue . »Bist du das?«, flüstert sie.
» Hm, ja.« Ich werde rot. »Tut mir leid, ich wollte nicht…«
Sie schüttelt vehement den Kopf . »Unsinn. Ich wollte mich gerade bei dir bedanken!«
» Ach so.« Unbeabsichtigt muss ich an ihren Kuss denken und werde noch
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