Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
auf ihre Frage.
Yve blies die Backen auf.
Ich war ehrlich betrübt ob dieses Umstandes und zupfte an einem der losen Flicken meines ausgefallenen Mantels.
Yve bewunderte mich immer wieder von neuem. Ich verstellte mich nicht.
Wie viele ehrliche Menschen hatte die Welt schon zu bieten? Nicht viele. Es war wahrlich nicht einfach, zwischen all den Betrügern und Hinterlistigen dieses rare Gut an Aufrichtigkeit zu entdecken.
Schief lächelnd beobachtete sie, wie ic h ein wenig hin und her wippte wobei mir die zerzottelten braunen Haare ins Gesicht fielen. Sie war froh, sich in meiner Gesellschaft zu befinden.
Die Menschentraube vor uns lichtete sich nach und nach und gab den Weg zur Theke frei. Ich gab unsere Bestellung auf, während Yve in ihrer Hosentasche nach den Münzen fischte. Schließlich verließen wir den Laden um einen Brotlaib reicher und traten auf die halbdunkle Straße.
»Die anderen warten mit Sicherheit schon auf uns«, meinte ich, das Brot unter den Arm geklemmt. Mein Profil wurde vom Schein der eben erst entzündeten Straßenlaterne erhellt und wirkte unter dem grauen Himmel gespenstisch weiß. Yve selbst sah nicht weniger blass aus. Deine dunklen Haare sind Schuld , hatte ihre Tante nie aufhören können, ihr in den Ohren zu liegen.
» Ja.« Yve blickte sich um. »Weißt du, woher wir müssen?«
Ich überlegte kurz . »Nicht genau.«
Sie blickte sich um, stellte fest, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, aus welcher Richtung der Straße sie gekommen waren . »Wunderbar! Ich liebe diese Stadt!«
» Was erwartest du? So ist das hier in Gynster Marbelle.«
Sie seufzte . »Solltest du dich hier nicht auskennen?«
» Vermutlich.« Ich setzte zu einer Erklärung an: »Die Stadt ist dafür bekannt, dass man sich trotz Ortskenntnis alle naselang verirrt. Sie wurde angeblich so angelegt. Die Straßen folgen einem System, das nur ihre einstigen Erbauer durchschauen, so dass der Effekt eines sich immerwährend verändernden Straßennetzes erzeugt wird. Einen Tag scheint sie einem anders, als am nächsten.« Ich schien ein wenig amüsiert. »Komm.«
Es war Yve unbegreiflich, wieso jemand auf eine solche Idee kommen mochte.
Gynster Marbelle war das reinste Labyrinth. Hatte sie sich bereits in Lhapata klein und verloren gefühlt, war dies die Krönung. Die Vollendung vollkommener Verwirrung. Verrückt! Aber Yve war schon immer der Meinung gewesen, dass es viel zu viele verrückte Menschen gab. Hohe schwarze Hauswände, Mauern, die keinen Sinn zu haben schienen, Brücken, die lächerlich kleine Abgründe überspannten, unterirdische Tunnel, Bunker, unheimlich hohe und schiefe Türmchen, zackige Straßen in den unmöglichsten Winkeln und alles mit einer rußigen Schicht überzogen, die man als schwarzen Sand bezeichnete. Der Sage nach war Gynster Marbelle von mächtigen Zauberern erbaut worden, die die Stadt aus dem Gestein der tiefsten Hölle selbst erbaut hätten.
Selbstverständlich war dies nicht mehr als eine Geschichte, aber Yve hatte schon immer eine Schwäche für Volksmärchen gehabt. Diese Tatsache war ihrem Wohlbefinden nicht sonderlich zuträglich, wie sie feststellen musste.
Manchmal hatte sie wahrlich das Gefühl , die Straße verändere vor ihren Augen ihre Richtung – was natürlich nicht wirklich geschah. Oder?
» Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sprach ich ihr gut zu. »Ich habe mich hier schon so oft verlaufen und immer zurückgefunden.«
Hätte sich die Welt nicht vor ihren Augen gedreht, sie hätte mir vielleicht geglaubt. Unversehens taumelte sie, rasch hielt ich sie fest. Verlegen klammerte sie sich an mich. Sie hätte mich augenblicklich losgelassen, wenn ihr nicht so furchtbar schlecht gewesen wäre.
»Das ist am Anfang ganz normal«, murmelte ich.
Mein fester Griff um ihre Schulter gab ihr Sicherheit, dennoch wünschte sie, ich würde sie fester halten. Als hätte ich ihre Gedanken gelesen , legte ich einen Arm um ihre Hüfte und zog sie an mich. Augenblicklich schoss ihr die Röte in die Wangen, dennoch ließ sie es geschehen. Für ein paar Sekunden schloss Yve einfach nur ihre Augen und atmete tief durch. Als sie sie wieder öffnete, schwankte die Straße schon etwas weniger.
Sie musterte mich . »Du hast hier tatsächlich eine Weile gelebt?«
» Ja, für ein paar Jahre. Wegen meines Studiums.«
» Alle Achtung. Ich glaube nicht, dass ich das ausgehalten hätte.«
» Du hast Ral’is Dosht ausgehalten«, erinnerte ich sie schief lächelnd.
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