Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
Sicherheit nicht leicht fallen wird.
Aber Deine nächste Aufgabe wird es sein, Willem Irrwig aufzusuchen. Deinen Vater, wenn man es denn so will, aber ich scheue mich, ihn so zu nennen. Soweit ich weiß, lebt er zurzeit im Norden, Genaueres kann ich Dir leider nicht mitteilen.
» Perlen heißen Weitsicht,
symbolisieren Macht
Sammeln um sich Völker,
Treten in Erscheinung, wenn einer lacht «
Du wirst es schaffen, das weiß ich ganz bestimmt.
In Liebe,
Dad
Zum Ende hin war ihre Stimme brüchig geworden. Die letzten ihrer Worte waren nunmehr dahingehaucht.
Ganz schnell hatte Crevi es zu Ende bringen wollen. Mit bebenden Fingern faltete sie die Nachricht zusammen, verbarg sie vor Yves erschüttertem Blick und wartete schweren Herzens auf die Reaktion der besten Freundin.
Noch jetzt erinnerte sie sich der wüsten Flüche die Yve nach einer Weile ausgestoßen, der Art wie sie sich über die Feigheit ihres Vaters empört hatte, der ihr die Wahrheit auf solch grausamem Wege mitgeteilt hatte. Noch immer hatten sie sich bei den Händen gehalten, ganz fest und plötzlich hatte Crevi gewusst, dass sie nichts von alledem alleine würde durchstehen müssen.
Mit dieser Gewissheit hatte sie sich am nächsten Morgen auf Yves Anraten, die billige Absteige zu verlassen und einen klaren Kopf zu bekommen, gemeinsam mit ihr in die Stadt von Gynster Marbelle begeben, um den fremden und – wie man sich erzählte, äußerst mystischen Ort – genauer zu erkunden und für ein paar Stunden dem Schatten ihrer Bestimmung entkommen zu können.
Tatsächlich fühlte Crevi sich befreit. Es tat gut, die frische, feuchtigkeitsschwangere Luft zu schmecken und in ihr den Regen der vergangenen Nacht zu riechen.
Und war dies nicht ein Anfang?
Zudem beruhigten sie die fremden Menschen, die emsig ihren Geschäften nachgingen, und die unbekümmerten Gespräche der Passanten, die munter plaudernd ihrer Wege zogen. Sie begann wieder, sich wie eine gewöhnliche Frau zu fühlen. Wie jemand, der nicht für das Schicksal abertausender Teufelskinder verantwortlich war.
»Lächle«, sagte Yve, nachdem sie dem alten Wachtturm entkommen waren, und ihnen der Geruch von frischgebackenem Brot in die Nase stieg. »Sei für ein paar Stunden einfach nur Crevi Sullivan und niemand sonst.«
Crevi konnte nicht anders als der Aufforderung nachzukommen. Denn sie verstand.
Niemals würde sie Crevi Irrwig sein.
Immer nur Crevi Sullivan.
Ihr Vater hatte sie geliebt, darin bestand kein Zweifel, und die Tatsache, dass sie nun von ihrer wirklichen Abstammung wusste, änderte nichts daran. Es war ein seltsam befremdliches Gefühl, plötzlich zu wissen, wo man herkam – jedoch nur so lange, bis einem bewusst wurde, wo man hingehörte. Joseph Sullivan war ihre Familie. Immer schon gewesen. Selbst jetzt nach seinem Tod.
Er hatte ihr soeben den Schlüssel ihrer Vergangenheit in die Hände ge legt, sie alleine mit all diesen Enthüllungen zurückgelassen.
Einfach so hatte er das, was sie all die Jahre über geglaubt hatte, als Lüge enttarnt.
Eigenartig, wie schnell sie sich mit dieser Neuigkeit abgefunden hatte. Vielleicht lag es daran, dass ihr, wie so oft, gar keine andere Wahl gelassen wurde.
Willem Irrwig war…der Mann, der sie in ein Waisenhaus gegeben hatte, nachdem ihre Mutter ihm zum Opfer gefallen war. Der Mann, den sie nun viele Jahre später würde aufsuchen müssen, um von ihm die vierte Perle zu erhalten, die ihr Vater für sie zurückgelegt hatte.
Obwohl Crevi sich dagegen sträubte, den Mann als ihren Vater zu bezeichnen, war sie doch neugierig, wie er wohl wäre. Wie er wohl aussah. Ob er ihr ähnlich war.
Eigentlich mochte sie im Augenblick nicht daran denken und trotzdem kehrten ihre Gedanken unaufhaltsam zu jenem Gespräch mit Yve zurück. Doch nicht nur zu jenem. Ebenso zu den wenigen Worten, die alles verändert hatten.
»Crevi!«
Vlain war es gewesen, der sie gerufen hatte. Nicht, dass sie auf ihn reagiert hätte. Ohne sich auch nur umzudrehen, war sie weitergelaufen, bis er sie schließlich einholte und festhielt. Geschrien hatte sie, verlangt, dass er sie losließ.
Dann hatten sie sich gegenüber gestanden, schweigend, beide so furchtbar hilflos. Weder vor noch zurück wissend. Crevi schien es, als wäre ihr Herz innerhalb dieser wenigen Sekunden, die sie sich schwer atmend und mit Tränen voller Verzweiflung in den Augen angesehen hatten, erfroren. Nicht einmal mehr richtig weinen konnte sie.
Schraubstockartig
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