Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
schmelzen brachte. Schließlich ließ sie sich aus einer Laune heraus mit erhitztem Eisen die Haare glätten und Yve ließ es sich nicht nehmen, sich Locken zu drehen. Sie kosteten Weine, Käse, rochen an Gewürzen und bestaunten kunstvolle Teppiche aller Art. Für wenige Stunden lebten sie ihr Leben. Fernab all der dunklen Gedanken.
Die Zeit verflog und insgeheim wünschte sich Crevi, dass nichts von alledem jemals enden würde. Doch wie so vieles, verflog auch der Zauber der vergangenen Stunden recht rasch. Sie saßen in einem Straßencafé und schlürften eine warme Schokolade, als Crevi einen traurigen Blick durch die milchige Fensterscheibe warf und das Läuten des verwitterten Glockenturms St. Reghow die fortgeschrittene Stunde signalisierte.
Ihre kalten Finger spielten rastlos am Griff ihrer Tasse und versuchten verzweifelt, die Wärme des Getränkes in sich aufzunehmen, etwas des kurzen Glücks festzuhalten. »Wir sollten langsam aufbrechen«, schlug Yve vor.
Crevi nickte nur und warf sich den neuen pelzgesäumten Umhang über, unter dem sie ein lilafarbenes Mantelkleid trug, wie es im Norden während der kalten Jahreszeit üblich war. Yve hatte gemeint, es könne nicht schaden, sich anzupassen. Zumal es hier wesentlich kälter wurde, als Crevi es aus dem Süden gewöhnt war.
Sie traten hinaus auf die klirrend kalte Straße.
Es ist noch viel zu früh , dachte Crevi. Kalt war es. Nass. Unwohlsein und Beklemmung gingen für sie mit dem Winter einher. Man fror, spürte den eisigen Wind um die laufende Nase fegen und kniff die Augen gegen das Eis zusammen, das auf der Haut brannte. Man zitterte und verkrampfte und am liebsten wäre sie zu dieser Zeit gar nicht mehr vor die Tür gegangen.
Schnell schob sie die unliebsamen Gedanken beiseite. Sie würden ihr nicht helfen, das, was noch kommen mochte zu überstehen. Dunkel kam es ihr in den Sinn, dass es dieses Jahr keine gemütliche Stimmung vorm prasselnden Kaminfeuer, keine erzählten Geschichten und kein glückliches Weihnachtsfest geben würde.
»Wir müssen zum Yubilane-Platz und von dort in den Stadtteil von Houmble und Sefrith«, rief Yves Stimme sie in die Gegenwart zurück. Bereitwillig ließ sie es geschehen, dankbar, für alles, was die Freundin bereits für sie getan hatte. »Stadtplan?«, fragte sie und hielt Crevi die ausgestreckte Hand entgegen.
Schnell suchte sie daraufhin in ihrer Tasche nach dem zerfledderten Heftchen. Gemeinsam suchten sie ihren momentanen Standort und folgten den Straßen, die sie zum verabredeten Treffpunkt mit den beiden Männern führen würden, um danach in die Feuergrube hinab zu steigen.
Sie folgten der Yubilee-Allee, auf direktem Wege zum Yubilane-Platz, wo reger Betrieb herrschte. Während sie sich durch die Mengen schoben, musste Crevi urplötzlich an Vlain denken und ein Stich durchfuhr ihr Herz.
Wie hatte sie nur so dumm sein können?
Um sich abzulenken, rief sie sich die Warnungen, die ich ihr mit auf den Weg gegeben hatte, ins Gedächtnis. Gefährlich, hatte ich ihr gesagt, seien die Straßen von Gynster Marbelle, wenn sie auch den Anschein von Sicherheit vermittelten. Aufmerksam solle sie sein und sich von keinem Fremden ansprechen lassen, denn Fremde mit düsteren Beweggründen gebe es hier zuhauf. Diebe , hörte sie noch einmal meine Stimme, lauern hinter jeder Weggabelung. Wer in Gynster Marbelle nicht auf der Hut ist, wird nicht lange überleben.
Urplötzlich streifte etwas Weiches und Haariges Crevis Handrücken und ließ sie ruckartig nach unten schauen. Ein kurzer überraschter und entsetzter Schrei zugleich entwich ihr.
Reflexartig schlug sie nach dem pelzigen Tier, das sich an ihre Tasche krallte und halb mit dem Kopf darin verschwand. Sofort ließ sich das Wesen fallen, landete auf allen Vieren und fauchte, dann drehte es sich um und lief los . »Es hat…meine Brieftasche!«, entfuhr es ihr, ehe sie sich bewusst wurde, was genau dies bedeutete. Das Geld, ihr Ausweis, die Quittung!
» Dann nichts wie hinterher!«, war Yves Antwort und schon drängelte sie sich an den empörten Passanten vorbei und folgte dem Wesen, das wieselflink zwischen den Beinen der Menschen hindurchflitzte. Crevi war einen Moment wie angewurzelt. Dann eilte sie ihr nach, in der Hoffnung, die Kreatur noch einzuholen und zu stellen. Dumm war das Tier jedenfalls nicht gewesen! Und ganz langsam kam ihr der Verdacht, dass es sich bei dem Dieb keinesfalls um ein bloßes Tier gehandelt haben musste.
Ich folgte Vlain
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