Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
noch mehr Blut. Mein Mund wurde schlagartig trocken.
» Adrian?«
Ich schüttelte heftig den Kopf, so dass mir das wirre Haar in die Stirn fiel.
»Hey!«
Mit einem Ruck kehrte ich in die Wirklichkeit zurück. Ich brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, dass es ein Ruck im wahrsten Sinne des Wortes gewesen war.
Benommen blinzelte ich in den Staub, den die Hufe unseres davongaloppierenden Pferdes aufgewirbelt hatten. Das war peinlich. »Bist du verletzt?«, erkundigte ich mich besorgt und verlegen zugleich bei meinem Schützling.
» Ich lebe noch, sagen wir es so«, entgegnete sie eine Spur bissiger, als ich vermutet hätte. Nach etwaigen Prellungen tastend erhob sich Crevi und begutachtete ihre ramponierte Kleidung.
» Entschuldige, das…« Ich verzog zerknirscht das Gesicht.
» …ist deine Schuld«, beendete sie meinen Satz. »Sei froh, dass ich mein Gepäck nicht in den Satteltaschen verstaut hatte, sonst wären wir jetzt um eine weitere Perle, die Briefe und das Vermögen meines Vaters ärmer.«
Einen Augenblick lang wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich fühlte mich wie ein richtiger Idiot! Warum meldete sich mein Dämon ausgerechnet jetzt mit einer Vehemenz, die er die ganzen letzten Jahre über hatte vermissen lassen? Hatte ich wohlmöglich mehr als nur meine Erinnerungen ausgesperrt?
»Es tut mir wirklich leid«, stammelte ich ein weiteres Mal. »Ich weiß wirklich nicht, wie das passieren konnte.«
Plötzlich sah Crevi gar nicht mehr wütend, sondern vie lmehr schuldbewusst aus. »Du weißt nicht, wie das passiert ist? Ich schon. Es ist dein Dämon oder etwa nicht?«
Ich antwortete nicht.
»Ich…ich habe einfach nicht die geringste Ahnung von diesen Dingen – ich wünschte, ich könnte dich und Vlain besser verstehen, ich wünschte, ich könnte irgendetwas tun.«
Ich dachte an das Blut, das sich in einer Pfütze unter Aimees Leiche ausgebreitet hatte; an ihr lebloses Antlitz, in das der Schrecken auf ewig eingraviert sein würde. Ich erinnerte mich an das Gefühl grenzenloser Panik und Hilflosigkeit. An den Unglauben und die Fassungslosigkeit über meine Tat. Die näher kommenden Schritte der ahnungslosen Bediensteten, an die überstürzte Flucht, die Entdeckung. An sie .
Unwillkürlich fragte ich mich, welch unwahrscheinliche s Wunder es war, einem Menschen wie Crevi zu begegnen. So gutgläubig und nachsichtig. Gleichzeitig wurde mir mulmig, als mir die Ähnlichkeit zu ihr bewusst wurde. Was konnte ein Jahrhundert einem lieben Mädchen nicht alles antun?
» Du tust doch bereits alles, was du kannst«, wies ich sie also zurecht. »Was willst du mehr tun, als nach einer Erlösung für uns zu suchen?«
Ich trat auf sie zu und zog sie einem inneren Impuls folgend an mich, ließ sie jedoch gleich wieder los, als ich bemerkte, wie sie sich unter meiner Berührung versteifte. Sie schüttelte nur ratlos den Kopf . »Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, als wäre ich nicht diejenige, die ich zu sein vorgebe…«
Ich stutzte . »Jetzt hörst du dich an wie Vlain.«
Dafür quittierte ich einen vielsagenden Blick. Dann lächelte sie kurz, etwas gequält. »Nein, im Ernst. Ich bin mir mit einem Mal völlig fremd. Ich fühle mich, als hätte ich Seiten an mir, die ich noch nicht richtig verstehe.«
» Wie soll ich das verstehen?«
» Wenn ich das nur selbst wüsste. Ich bin in der Lage, Dinge zu tun, die ich vorher niemals für möglich gehalten hätte.«
» Ich dachte, das wüsstest du schon.«
» Nein, jetzt ist es anders!«, beharrte Crevi. »Vor ein paar Tagen, als wir Irrwig aufgelauert haben, im Keller, während des Kampfes, ist etwas passiert…«
» Ja…?«
» Mir war, als hätte ich plötzlich die Kontrolle über euch. Ist das möglich?«
Mir wurde ein wenig kälter. Die Kontrolle? Ich hatte das befremdliche Gefühl, das mich nach Irrwigs Tod überkommen war, noch gut in Erinnerung.
»Und was tun wir jetzt?«
Crevi runzelte die Stirn . »Wie bitte?«
» Na ja, wir können nicht die ganze Nacht hier herumstehen. Bis zur Herberge ist es nicht mehr weit.«
» Was?«
» Wir müssen dort entlang«, sagte ich kurzerhand und setzte mich ohne ein weiteres Wort in Bewegung.
Über manche Dinge schwieg man lieber.
Tatsächlich erreichten wir das Gasthaus nur wenige Minuten später. Eine kühle Brise ließ die Äste der dünnen Bäumchen, die um das Gehöft herum standen, zittern und groteske Schatten werfen. Der warme Schein, der durch die Fensterscheiben fiel,
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