Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
verhungern? Ertrinken? Verbrennen? Verbluten? Was ist mit Selbstmord? Ich glaube kaum, dass sich schon mal ernsthaft jemand damit auseinandergesetzt hat…«
» Jayden!« Vlain hob eine Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. »Mir ist im Augenblick nicht danach, genauer über diese Dinge nachzudenken. Wenn du also so freundlich wärst…«
» Ihr mögt es nicht, wenn man nach euren Schwächen sucht, was?«
» Es ist mir ernst, Jay. Ich möchte daran lieber gar nicht denken.«
Zu seiner Erleichterung hatte er Jaydens Neugier damit fürs Erste gestillt. Dass es ihm ein Leichtes wäre, die Kälte aus seinen Gliedern zu vertreiben, indem er seinen Dämon anrührte und es seiner inneren Hitze erlaubte von ihm Besitz ergreifen zu lassen, behielt Vlain für sich.
Die Wahrheit war eigentlich ganz einfach: Solange er fror, war er verletzlich. Solange er verletzlich war, war er menschlich. Und solange er menschlich war, war es nicht allzu schwierig sich einzureden, kein seelenloses Monster zu sein.
Yve bewunderte gut gelaunt die schneeweiße Winterwelt, in die sich die Landschaft über Nacht verwandelt hatte, und war heilfroh, die Szenerie, die zweifelsohne hübsch anzuschauen war, aus der Wärme ihrer Kutsche betrachten zu dürfen.
Seufzend ließ sie sich in ihren Sitz zurücksinken und zeichnete mit ihrem behandschuhten Finger ein lächelndes Gesicht auf die beschlagene Fensterscheibe, hinter der die kahlen Bäume ihre knorrigen Äste dem Himmel entgegen streckten.
»Du siehst bezaubernd aus, Yve«, meinte Ennyd Riddle mit der Stimme eines Heuchlers und sie konnte das Rascheln seines neuen Jacketts hören, als er sich in ihre Richtung beugte.
Sie hob eine Augenbraue und wandte sich ihm zu . »Ich wusste gar nicht, dass du doch Geschmack hast.«
» Reizend wie immer heute morgen«, kommentierte er und schüttelte gespielt bekümmert die gold-silberne Lockenmähne. Sie verfolgte, wie er ein Stück Kohle in den beheizbaren Ofen, der sich zwischen ihnen im Fußraum des Gefährts befand, nachlegte und das kleine Feuerchen schürte. Danach lehnte er sich genießerisch seufzend zurück und faltete die Hände über dem Bauch. »Du solltest mir danken und mich nicht verspotten.«
» Tatsächlich?«
» Ja. Du bist wirklich undankbar. Was kann ein Mann noch tun, als einer Frau Luxus und Reichtum zu Füßen zu legen, um ihr seine unsterbliche Liebe zu gestehen?« Er blinzelte sie vorwurfsvoll an.
Jetzt grinste Yve. Das Spiel gefiel ihr . »Schon klar. Soll ich ehrlich sein? Ich kann deine Speichelleckerei nicht mehr ertragen. Du redest und redest und doch kommt nichts dabei herum. Weißt du, ich steh da mehr auf Intelligenz als auf viel Tamtam und nichts dahinter.«
Er tat beleidigt .
» Entschuldige, wenn du so griesgrämig schaust, bist du schon fast wieder süß. – Es ist wahrscheinlich bloß, dass ich diesen Wohlstand nicht gewohnt bin. Aber jetzt, da ich Master Riddle an meiner Seite weiß, werde ich wohl bis an mein Lebensende in Überfluss leben.« Yve konnte sich diesen Seitenhieb einfach nicht verkneifen und goss ihnen zwei Gläser Champagner ein, die ebenfalls zur reichen Ausstattung der Kutsche gehörten, reichte ihm eines und prostete ihm zu. »Gepriesen seien deine zwielichtigen Beziehungen!«
Ennyd stieß mit ihr an und ließ sich den Champagner prickelnd auf der Zunge zergehen . » Das tut gut. Möglicherweise, Yve, wird das noch was mit uns beiden, was denkst du?«
» Man kann nie wissen«, antwortete sie amüsiert. »Tatsächlich entsprichst du meiner Vorliebe für jüngere Männer. Was immerhin ein Anfang wäre.«
Er drehte das Glas nachdenklich zwischen den Fingern und fragte dann : »Wie alt bist du?«
» Dreiunddreißig.« Sie spitzte anzüglich die Lippen und zwinkerte ihm zu.
Das Phantom stellte das Champagnerglas bei Seite und musterte sie aus seinem einen Auge von oben bis unten . »Was hältst du von einer kleinen Kostprobe?«
Yve spürte, wie ihre gute Laune sank. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Ennyd es ernster sein könnte, als ihr lieb war. Um ihre Antwort hinauszuzögern, nahm sie einen erneuten Schluck aus ihrem Glas. Dachte an Reird Laine, der – sollte er das Unglück bei Ral’is Dosht überlebt haben – Zuhause auf sie wartete. Doch wusste sie das mit Bestimmtheit? Und hatte sie ihn nicht bereits mit Jayden betrogen?
»Ich weiß nicht, Ennyd.«
Verflucht, sie war es nicht gewohnt, an irgendjemanden gebunden zu sein. Das war sie nie gewesen, ihr ganzes Leben lang.
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