Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
Hände zu Fäusten und glaubte zu spüren, wie sich die Umgebung um mich herum verdunkelte. Wie sich die Schatten um mich scharten und die Kreatur der Finsternis in ihrer Mitte willkommen hießen. Sie waren greifbar nahe, liebkosten wabernden Nebelschwaden gleich meine bleiche Haut, doch das Schlimmste daran war – ich genoss es.
Selbst Liwy fuhr überrascht herum. Sogleich verengten sich ihre Pupillen zu Schlitzen und als sie grinste, waren ihre Eckzähne lang und scharf, spitz zulaufend, wie die Klingen eines Dolches. »So?«, fragte sie mich ehrlich verdutzt. »Das ist doch sonst nicht deine Art?«
» Lass. Sie. In. Ruhe«, grollte ich mit einer Stimme, die so tief und Ehrfurcht gebietend klang, wie das Donnergrollen selbst.
» Jetzt wird’s ernst, was?«
» Treib es nicht zu weit.«
» Was kannst du schon tun? Mich töten? Es wäre eine Erlösung. Und das weißt du. Was also erwartest du? Dass ich aufgrund leerer Drohungen davon laufe?« Sie kicherte und fuhr sich mit der Spitze ihrer gespaltenen Zunge über die blutleeren Lippen. »Ich kenn dich doch. Du würdest niemals…«
Ich neigte den Kopf leicht nach vorn und fletschte die Reihen messerscharfer Zähne. Alles in meiner Haltung erinnerte an eine drohende Raubkatze, die kurz davor stand, anzugreifen.
Liwy ließ sich das kurz durch den Kopf gehen, dann verschwand sie ein paar Sekunden lang spurlos, bis sie kopfüber, die Klauen in die Wand gekrallt, ein paar Meter weiter wieder auftauchte und mich den Kopf auf die Seite gelegt aus den Augen eines Reptils musterte. »Ich ziehe mich zurück. Lässt du mich laufen?«
» Hätte ich einen Grund dazu?«
Sie verneinte. Die Muskeln ihres unnatürlich verbogenen Körpers spannten sich, dann holte sie tief Luft und stieß sich auf das geschlossene Fenster zu. Die Scheibe zerbarst in einem Regen aus schimmernden Splittern und ehe ich recht wusste, was ich tat, hockte ich im Fensterrahmen und blickte ihrem fallenden Körper nach. Ehe sie auf dem Boden aufschlug, war sie verschwunden.
12. Ankunft
Missgelaunt verfolgte Vlain den stetigen Schneefall, der vor einigen Tagen eingesetzt hatte und nicht mehr enden zu wollen schien. Bibbernd zog er die Stofffetzen enger um die Schultern, während er sehnsüchtig zu dem lodernden Feuer in der Mitte der leer stehenden Lagerhalle hinüber schielte, das sich zu seinem Leidwesen in nicht erreichbarer Nähe befand und von einer nicht kleinen Gruppe Obdachloser, die vor ihm ihren Platz ergattert hatten, umringt wurde. So sehr er sich auch einzureden versuchte, die Wärme trotz der beachtlichen Entfernung in Ansätzen zu spüren, so sehr wurde er jedes Mal von einem neuerlichen Schaudern ergriffen, wenn eine äußerst fiese Windböe ihm, der direkt neben dem Eingang saß, die eisigen Schneeflocken ins Gesicht trieb.
» Ich hab dir gesagt, wir hätten eher hier sein sollen«, brummte Jayden.
» Konnte ich wissen, dass du uns zu einer derart angesagten Adresse führen würdest?«, entgegnete Vlain unwillig und konnte nicht verhindern, dass sein Tonfall verächtlich wurde. »Ich dachte, das hier wäre so was wie eine Auffangstelle für Straßenpenner .«
Jayden schüttelte nur vielsagend den Kopf . »Weißt du, man muss schließlich irgendwie durchkommen. Wenn man erst mal auf der Straße lebt, wird einem das ziemlich schnell klar. Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht.«
Vlain öffnete, überrumpelt von der Ernsthaftigkeit des Bettlers , den Mund, verzichtete dann aber auf eine Erwiderung und drehte dem Mann den Rücken zu. Es wäre vermutlich ganz einfach gewesen, sich zu entschuldigen und doch brachte er es nicht über sich. War er etwa zu stolz dafür? Nein , gab er sich selbst die Antwort. Nur zu feige.
Im Grunde genommen hegte er dem Bettler gegenüber keinerlei böses Blut, daher war es ihm völlig schleierhaft, wieso er sich die wenigen Beziehungen, die er noch nicht vollends zerstört hatte, durch solche Kleinigkeiten kaputt zu machen drohte. Aber er tat es. Immer wieder. Vielleicht war er dazu bestimmt, allein zu bleiben.
Sie hatten die Elendsviertel von Jurok, einem Dorf, das im Schatten des Zagrin-Don lag, vor mehreren Tagen über eine Landstraße erreicht und sich vorerst unauffällig verhalten.
Wie Vlain schnell festgestellt hatte, waren Jaydens Bedenken berechtigt. Denn nur wenige Tage nach ihrer Ankunft erreichten sie die ersten Gerüchte bezüglich Unruhen in Gynster Marbelle. Zudem waren die Menschen hier von Natur aus argwöhnisch und
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