Beschuetz Mein Herz Vor Liebe
ersparen, daß sie alles mit angesehen hatte. Ihre Schwester Irmingard, ihr Schwager Paul. Wie sollten sie das ertragen?
Anni, die Therese auf dem Weg zur Fabrik hin und wieder abpaßte, hatte Therese berichtet, daß Tante Irmingard und Onkel Paul sich mit Veronal vergiftet hatten. Diesen Gefallen, dachte sich Therese, tue ich den Nazis nicht, noch nicht.
Zwischen Mülleimern im Hof der Fabrik saß Therese und kaute ihr mitgebrachtes Brot. Andächtig, eingehüllt in Licht und Gestank kaute sie langsam jeden Bissen. In der Küche hatten sie eine Paste aus Grießmehl erfunden, mit der das trockene Brot bestrichen war. Außer Minztee am Morgen hatte Therese noch nichts im Magen gehabt. Der Hunger verließ sie nicht einmal mehr im Schlaf. Nach dem sorgsam gekauten Bissen schien er für immer unstillbar. Die Lagerleitung gab sich größte Mühe, aber nicht immer konnten die Heiminsassen ausreichend verpflegt werden.
Es wurde Zeit für Therese, aufzustehen. Schließlich hatte sie die Minuten bei den Mülleimern gestohlen. Am Anfang, besonders wenn die Sonne schien, hatte Therese sich vor dem Gestank der gärenden Abfälle geekelt. Jedoch sie gewöhnte sich daran. Nahm den Gestank in Kauf für die Stille zwischen den Tonnen.
Im Saal oben, wo Therese Schrauben für Feldtelefone drehte, ratterten Stanzmaschinen, zwölf Stunden am Tag. Irgendwann stumpfte Therese auch dagegen ab. Sie versuchte, alle Geräusche und Bilder um sie herum auszuschalten wie die Vorführung eines Films. Manchmal gelang es ihr, sich mit allen Empfindungen hinter die Wände ihres Schädels zurückzuziehen. Doch dann wieder, besonders an Föhntagen, schlug ihr der Lärm wie ein Hammer ins Gehirn.
Therese lief in die Halle zurück, wobei sie sich hinter Tonnen und Verpackungsbehältern verbarg. Vielleicht war ihr Fehlen schon aufgefallen, und man suchte sie. Sie mußte zehn Stunden am Tag arbeiten, und sie durfte ihren Platz auch nicht während der halben Stunde Mittagspause verlassen. Doch jetzt hatte Werkmeister Thalhuber Schicht. Vor ihm hatte Therese keine Angst. Vielleicht war Thalhuber überhaupt der einzige Mensch im Betrieb, vor dem Therese keine Angst hatte. Die Frauen, die mit ihr in der Halle arbeiteten, hatte Therese niemals vorher gesehen, aber sie gehörte zu ihnen. Sie alle waren wie halb verhungerte graue Tauben, durch ein Verhängnis dazu bestimmt, in der Gefangenschaft zu sterben. Gertrud, die neben Therese saß, hatte oft Herzanfälle, bei denen sie zu ersticken glaubte. Einmal, als Therese sie hinausgeführt hatte, war ein Aufseher dazugekommen: »Was ist los? Krank? Eine Jüdische? Kippt sie doch in den Müll.«
Therese mochte Gertrud. Sie war eine große knochige Frau mit starken Zähnen. Es schien, als reiche ihr Mund nicht, sich darüber zu schließen. Gertrud stammte aus einer Münchner Kunsthandlung, hatte Kunstgeschichte studiert. Therese hätte gern mit ihr geredet, aber Sprechen war während der Arbeitszeit nicht erlaubt. Christl, eine junge blonde Frau mit Pagenkopf, die auf der anderen Seite neben Therese saß, hielt sich nicht ans Redeverbot. Siehatte Therese gleich am ersten Tag gefragt, ob sie Angst vor den Nazischweinen habe. Nur wenn Öttl Aufsicht hatte, dann war auch Christl wachsam. Sie vermutete, daß Öttl wegen Fettsucht nicht Soldat geworden war. Selbst der weiteste Kittel konnte seinen Bauch nicht bedecken, so daß er den Kittel offenließ und sein schmuddeliges Unterhemd sichtbar wurde. Das Wendigste an Öttl waren seine Augen. Fischaugen, aus denen jede Sekunde die Mordlust eines Haies herausbrechen konnte. »Wenn ich dem seine Augen seh, wird mir schlecht«, flüsterte Christl. »Der hat ja Wimpern wie eine Sau.« – »Der ist auch eine Sau«, entfuhr es Gertrud, und ihr Mund schloß sich nach dieser ungewohnten Grobheit mühsam wieder über ihren Zähnen.
Öttl watschelte durch die Halle wie ein aufgedrehtes Kinderspielzeug, nur lautlos. Er war allgegenwärtig. Die hochtrabende Überheblichkeit seiner Rasse hatte ihm gänzlich unvorhergesehen eine Schar von Frauen ausgeliefert. Jüdinnen, Polinnen und Russinnen. Alle waren sie angekettet an seinem Triumphwagen. Es schien Öttl jeden Tag aufs neue zu beglücken, den Frauen an ihren Haaren den Kopf in den Nacken zu reißen, wenn er gesehen hatte, daß eine tuschelte oder sich für eine Minute ausruhte. Oder er pflegte blitzschnell gegen den Schemel zu treten, auf dem die Frau saß, so daß sie stürzte. Judensau nannte er sie, Hure, Russen- oder
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