Besessen
diese Behauptung schien jetzt unfair. Nathan hatte seinen Adoptiv-Sohn verloren und mit unsererBlutsverbindung noch eine emotionale Belastung auf sich genommen. All das zusätzlich zu der lebenslangen Schuld, mit der er wegen des Mordes an seiner Frau leben musste. Wie konnte ich meine ungeprüfte Stärke mit der eines Mannes vergleichen, der so einen endlosen Spießrutenlauf emotionalen Schmerzes durchgestanden hatte?
Allerdings gab es Zeiten, da war mir, als ob Nathan eine Schlüsselkomponente unserer Blutsbande überging. Während er unter dem Verlust seiner Frau und seines Sohnes litt, hatte er immer noch mich. Wir konnten zusammen lachen und miteinander atemberaubenden Sex haben, aber Gott bewahre ihn davor, je irgendein Gefühl von mir zu teilen.
Ich hatte nicht bedacht, dass Nathan jetzt meine Gedanken hören könnte, bis ein erschütternder Schmerz fast die Knochen meines Schädels sprengte. Es kamen keine Worte über das Blutsband, nur erdrückendes Bedauern.
Jetzt auf einmal willst du Teil meines Lebens sein. Ich wusste, dass Nathan in eine unvorstellbare, höllische Gefangenschaft geraten war und litt, aber ich konnte die körperlichen und seelischen Qualen, die ich durch die Verbindung zu ihm fühlen musste, keine Sekunde länger ertragen. Ich blockierte das Blutsband und wischte mir die Tränen der Scham aus dem Gesicht.
So müde wie ich war, hätte ich Evans Warnung fast vergessen. „Mach, dass du so schnell wie möglich von hier wegkommst.“ War ich hier in Gefahr? Würde jemand hereinstürmen und mich töten, wenn ich einschlief? Plötzlich hellwach, klickte ich die Lampe auf dem Nachtisch an und fiel zurück auf die Kissen. Ich starrte die Tür an. Es musste einen Weg geben, sie von innen zu sichern. Immerhin hatte March einen Schlüssel benutzt, um aufzuschließen. Ich sammelte meine letzten Kräfte und torkelte zur Tür. Es warenkeine Riegel oder Schließvorrichtungen in Nähe des Türknaufs erkennbar. Aber warum hatte March dann einen Schlüssel gebraucht? Ich versuchte den Knauf zu drehen.
Er rührte sich nicht. Ich war eingeschlossen.
Ganz gleich, wie dringend ich Schlaf brauchte, jetzt war ich sicher, keinen zu finden.
12. KAPITEL
Die Welt ist klein
Die Werwölfin wartete auf jemanden.
Max beobachtete sie aus dem Schutz eines Mietwagens. Sie saß in einem kleinen Café. Sein beeindruckender Pontiac Firebird hätte sie sofort auf ihn aufmerksam gemacht, deshalb hatte er den Wagen stehen lassen.
Er setzte das mit auf seine Liste „Gute Gründe für extremen Hass auf die Werwolfschlampe“.
Dem ungeschulten Auge wäre Bella einfach als eine dieser eingebildeten Frauen erschienen, die müßig allein in Cafés herumsaßen. Kein Buch, kein Laptop, nicht mal eine Zeitung, um sie von ihrem Alleinsein abzulenken. So, wie sie genau im einzigen Schaufenster des kleinen Ziegelbaus thronte, zog sie die Aufmerksamkeit von jedem auf sich, der auf dem Bürgersteig vorbeikam. Ein Mann rannte in einen Briefkasten, weil er sie anstarrte und dabei alles um sich herum vergaß.
Auch sie wirkte versunken, doch Max sah, wie ihre goldenen Augen verstohlen die Passanten taxierten, der Kaffee, der vor ihr stand, musste schon vor geraumer Zeit kalt geworden sein. Am Himmel prangte der Vollmond. Sie würde ihre Tierform nicht annehmen. Die wenigsten von ihnen mussten das, selbst wenn sie den Einsatz wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Umgehung des Phänomens von sich wiesen. Nein, sie wandten allerlei faulen Zauber an, möglicherweise unter Verwendung von abartigen Zutaten wie Babyzungen und Augen von Wassermolchen. Aber ein kleiner Nadelstich einmal im Monat war eine Todsünde.
Das warme Licht, das aus dem Inneren des Cafés auf die Straße fiel, beleuchtete sie von hinten wie eine künstlicheSonne. In ihrer übernatürlichen Reglosigkeit wirkte sie wie eine Figur auf einem Gemälde. Ihr Bewunderer hatte keine Ahnung, wie düster und tödlich diese geheimnisvolle Schönheit war.
Max stöhnte und schüttelte den Kopf. Sie war nicht schön. Er war lediglich geil. Eines Tages würde er einen Weg finden, sie dafür verantwortlich zu machen – nicht auf dem nahe liegenden Weg, denn Bestialität war nicht sein Ding – aber irgendwie.
Eine schattenhafte Gestalt im langen schwarzen Mantel, viel zu warm angezogen für das Wetter, betrat den Shop durch die schmale Tür. Im Fenster richtete sich Bella unvermittelt auf und schnupperte.
Die Bewegung stellte die schlanke Kurve ihres Halses heraus, und die blauen
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