Besessen
sollte sich wenigstens mit den Grundlagen dessen befassen, was er vor sich hatte.
Mein Schädel brummte, und meine Sicht war verzerrt. Es fühlte sich an, als würde sich mein Kopf gleich mit lauten Stimmen füllen. Also nahm ich einen tiefen Atemzug und stellte mir eine Steinmauer vor, so wie Nathan es mich gelehrt hatte. Tatsächlich hatte er es mir mit einem Schild aus weißem Licht erklärt, aber eine Mauer mit kletterndem Efeu schien mir irgendwie stärker als dieser New-Age-Klimbim. Diese Maßnahme hinderte andere Geister – den von Nathan und nun offenbar auch den von Cyrus – daran, meinen Geist zu betreten und von meiner Kraft zu zehren.
Ich hob die Phiole mit meinem eigenen Blut, schnippte den Deckel weg und stürzte den Inhalt herunter, bemüht, den Geschmack nicht wahrzunehmen. Für eine Vampirzunge ist menschliches Blut etwas Erstaunliches. Dick und warm und voll kupfernem Biss. Es ist nicht wie irgendein Nahrungsmittel, das ein Mensch zu sich nimmt. Vampirblut – letztlich kannte ich nur das von Nathan und Cyrus, die paar Male, die ich davon gekostet hatte – war genauso, aber mit einer Art Leere, als ob irgendwelche Sinne meldeten, dass es nicht die Substanzen enthielt, die unsereins brauchte. Gleichzeitigwirkte es auf uns wie total überzuckerte Tiefkühlkost auf Menschen. Es konnte den Stoffwechsel dauerhaft schädigen, so wie es dem Souleater ergangen war, und für einen Vampir ist dauerhaft eine verdammt lange Zeit. Mein eigenes Blut hingegen schmeckte nur wie normales altes Blut, als hätte ich mich in den Daumen geschnitten und ihn sauber geleckt. Es war nicht angenehm, und ich unterdrückte einen unkooperativen Würgereiz, um es herunterzuschlucken. Aber das war immer noch besser, als es herumliegen zu lassen, bis sich einer von Marchs Jungs daran vergriff.
Mein Magen knurrte heftig. Ich griff nach einem der Beutel in dem Sektkühler. Unter normalen Umständen wäre mir das Blut verdächtig gewesen, aber ich war zu hungrig und zu schwach, um mich davon abzubringen, es zu trinken. Meine Finger stießen unter dem Beutel auf etwas, das kein Eis war. Es war eine Nachricht, diesmal fest gefaltet. Durch den schmelzenden Eiswürfel begann die Tinte schon zu zerlaufen.
Ich habe ein paar Aspirin in der Nachttischschublade deponiert. Entspann dich bis zum Sonnenuntergang. Und dann mach, dass du so schnell wie möglich von hier wegkommst.
Evan
Verärgert las ich die Nachricht noch einmal und steckte sie zurück in den Eimer. Auf keinen Fall würde ich irgendwelche Pillen nehmen, die Evan dagelassen hatte. Ich bin nicht so blöd, Süßigkeiten von Fremden anzunehmen, erst recht nicht, wenn sie schon versucht haben, mein Blut zu stehlen. Nebenbei war mein Kopfschmerz nichts, was ein wenig Nahrung und etwas Ruhe nicht kurieren konnten.
Ich fühlte mich träge und faul, ließ das Glas gleich weg und stieß meine Zähne durch das dünne Plastik des Beutels. Auf der Reise hatte ich nicht genug zu mir genommen. Hinten im Laster zu schlafen war unbequem und anstrengend gewesen, und nun lag ich verlassen in einem fremden Bett in einem Puff. Das ließ mir Zeit zum Nachdenken. Aber von den beiden Wesen, die mir in letzter Zeit am meisten durch den Kopf gingen, drängte sich dauernd der eine nach vorn, mit dem ich mich gar nicht so gern befassen wollte.
Vielleicht weil Evan mich um ein Haar in die gleiche Lage gebracht hätte, die Cyrus aufgezwungen worden war. Ich hatte immer unterstellt, dass Cyrus finstere Motive hatte, mich in einen Vampir zu verwandeln, obwohl er mir mehrfach beteuert hatte, dass es ein Unfall war. Was mir von jener Nacht im Gedächtnis geblieben war – abgesehen von der Erinnerung, wie ich auf Händen und Knien durch Formaldehyd und menschliche Spenderlebern kroch –, sprach nicht gegen seine Behauptung. Sosehr ich den Gedanken hasste, er könnte ebenso wie ich ein Opfer der Umstände gewesen sein, schien es doch die Wahrheit zu sein.
Was, wenn Evan mein Blut genommen hätte? Als ich Nathans Zögling wurde, war er völlig handlungsunfähig vor lauter Angst, mich zu verlieren. Genauer gesagt, war es die Angst vor dem Schmerz, den er fühlen müsste, wenn er mich verlor. Cyrus war fast bis zur Freiheitsberaubung gegangen und hatte alles daran gesetzt, mich immer bei sich zu haben. Ich wusste, dass ich stärker war als Cyrus. Das musste ich sein, um ihm in die Augen zu sehen, während ich ihm ein Messer in sein Herz stieß. Ich nahm auch an, dass ich stärker war als Nathan, aber
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