Besessene
Winter hast du lieber als den Sommer, fragst dich aber, ob das vielleicht nicht normal ist …«
Sie unterbrach sich und ich setzte mich wieder. »Das kann dir doch jeder erzählt haben.«
»Warum siehst du den Tatsachen nicht einfach ins Auge«, sagte sie und gähnte.
»Weil du dich täuschst … du machst dir etwas vor.«
Genevieve setzte sich mir gegenüber an den Tisch. »Kennst du diesen Traum?« Sie lächelte so breit, dass ihre Zähne sichtbar wurden. »Als ich klein war, habe ich immer geträumt, dass du vor einem Spiegel saßt und mich beobachtet hast. Ich habe mir vorgestellt, es wäre wie in Narnia, nur dass uns beide eine Glasscheibe getrennt hat.«
Ihre Worte trafen mich wie ein Dolchstoß, denn noch nie hatte ich jemandem von diesem Traum erzählt.
»Kannst du es etwa nicht verkraften, dass wir gleich sind, Katy?« Sie beugte sich zu mir hinüber und nahm meine rechte Hand. Unsere Finger passten haargenau aufeinander,genau wie damals, an dem Tag im Bus. »Deine …
Mum
verschließt noch immer die Augen vor der Wahrheit«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Sie hat ihre Vergangenheit so lange umgeschrieben, bis sie sie selber geglaubt hat … und ist überzeugt davon, dass ihre Version der Ereignisse die richtige sein muss, weil das, was sie getan hat, viel zu schmerzlich ist, um sich damit auseinanderzusetzen.«
Obwohl ich wie erstarrt war, sagte ich mit bebender Stimme. »Ich will jetzt nichts mehr weiter hören … geh weg von hier, so wie du es versprochen hast.«
Sie schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich kann jetzt noch nicht gehen, Katy … und das liegt nur an dieser Frau. Sie verbreitet immer noch Lügen und verheimlicht, was sie getan hat. Ich muss dich von ihr befreien, Katy. Bist du bereit? Bist du bereit für die Wahrheit?«
Kapitel 37
E s wurde die längste Nacht meines Lebens, denn jede einzelne Minute kam mir wie ein Jahr vor. Als Mum mich am nächsten Morgen fand, saß ich immer noch in ihrem Sessel, aus dem ich mich nicht fortbewegt hatte, seit Genevieve gegangen war. Ich muss schrecklich ausgesehen haben, denn sie kauerte sich gleich neben mich und fasste mich prüfend an, aber ich spürte nichts, war wie versteinert. Sie strich mir über meine Wange, dann ließ sie die Hand fallen und sackte in sich zusammen.
»Was ist denn nur passiert, Katy? Du bist ja ganz verfroren und hast dich gar nicht hingelegt. Hat dir etwa jemand etwas getan? Bist du überfallen worden?«
Die Antwort fiel mir schwer und ich sagte mit heiserer Stimme: »Genevieve ist heute Nacht hier gewesen. Sie hat auf mich gewartet, als ich nach Hause kam.«
Mum fuhr zusammen, als habe man ihr einen Schlag versetzt. »Und … was wollte sie von dir?«
Ich antwortete nicht. Mum machte einen Schritt zurück, dann einen weiteren und zog sich so bis an die Tür zurück, als wolle sie die Flucht ergreifen. Sie gehe nur schnell in die Küche, sagte sie entschuldigend. Wenige Minuten später kam sie mit einer dampfenden Tasse zurück und legte mirdie Hände darum, damit ich nichts verschüttete. Ich protestierte nicht einmal dagegen, denn meine Finger waren wie taub.
Ich trank von dem Tee, verschluckte mich aber sofort, weil er so heiß war. »Eigentlich wollte sie ja weg von hier«, sagte ich hustend. »Es ist ihr zu langweilig bei uns und sie findet auch mein Leben viel zu unattraktiv, um es mir zu nehmen … aber dann, plötzlich … war alles anders.«
»Was war anders?«
Ich betrachtete Mum, als hätte ich sie lange nicht gesehen. »Wir haben über dich gesprochen. Das hat den Ausschlag gegeben.«
»Du hättest sie gleich wegschicken müssen, Katy … sie hat in unserem Leben nichts zu suchen.«
»Ich musste dich doch verteidigen«, entgegnete ich erregt. »Sie sollte wissen, dass du sie nur schützen wolltest.«
Mum suchte Halt an einem Stuhl und ich begann so stark zu zittern, dass meine Zähne an den Rand der Tasse schlugen. »Sie hat gesagt … es gibt einen Grund, weshalb wir zwei so viel gemeinsam haben.«
Mums Augen huschten unruhig hin und her. Ich war nicht sicher, ob ich weitersprechen sollte, und ich hätte fast schon resigniert und so getan, als hätte es die letzte Nacht niemals gegeben und alles wäre wieder wie zuvor. Doch das war mir unmöglich nach allem, was ich mittlerweile wusste. So blieb mir nur, die Augen fest zu schließen und mit der Wahrheit rauszurücken.
»Genevieve hat mir gesagt, dass wir verwandt sind … dass wir nicht nur Schwestern sind,
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