Besessene
endlich die Scheune in Sicht kam. In die alten Scheunentore hatte man riesige Glasscheiben eingelassen, die bis hinunter zum Boden reichten, und als ich näher kam, sah ich Genevievedahinter, die an einem Tisch saß. Sie blickte genau in diesem Moment hoch und winkte mir zu.
»Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte sie nur.
»Und ich wusste, dass du wusstest, dass ich kommen würde.«
Wir mussten beide lachen und zum ersten Mal schienen wir ehrlich zu reagieren und uns nicht wie sonst gegenseitig ausstechen zu wollen.
»Komm rein, ich geb dir was Trockenes zum Anziehen.«
Das Erdgeschoss bestand aus einem offenen Wohnbereich, in dem ein L-förmiges Sofa mit weichen Kissen, ein moderner Esstisch für acht Personen und eine durch einen Wandschirm abgetrennte Arbeitsecke untergebracht waren. Selbst die abgefahrene rote Küche, die so sauber aussah, als ob nie in ihr gekocht würde, war noch in den Raum integriert. Überall mischte sich Altes und Neues auf harmonische Weise. Oberhalb des Wohnbereichs befand sich eine in hellem Eichenton gebeizte Empore, zu der eine Treppe im gleichen Holz und mit vier Absätzen hinaufführte.
Genevieve stieg nach oben und ich folgte ihr und lauschte auf unsere Schritte, die in dem höhlenartigen Raum widerhallten. Ihr Schlafzimmer war nicht besonders groß, aber von hier hatte man einen Blick über die ländliche Gegend, die heute von makelloser Schönheit war – mit weißem Reif überzogene Dächer, eine schneebedeckte Kirchturmspitze, Bäume und Büsche, die die verschneiten Zweige in alle Richtungen reckten. Genevieve holte ein Paar Jeans und einen Pullover aus dem Schrank und ich streifte ohne jede Scham mein nasses Kleid ab, mir voll undganz der Ironie bewusst, dass Genevieve sich jetzt wie meine zweite Haut anfühlte: Ihre Kleider und selbst die Turnschuhe saßen wie angegossen. Sie reichte mir auch eine Bürste, und erst als ich in den Spiegel sah, wurde mir bewusst, dass meine Haare immer noch zu einem strengen Zopf zusammengebunden waren, der zu der legeren Kleidung deplatziert aussah. Vorsichtig zog ich die Haarklammern heraus, löste ihn und ließ die Haare, die sich jetzt wellten, als ob ich einen Lockenstab benutzt hätte, auf meine Schultern fallen.
»Warst du ein Wildfang, als du klein warst?«, fragte Genevieve neugierig.
Ich nickte. »Ja … am liebsten wollte ich immer mit Luke und seiner Bande spielen.«
Sie zog eine Schnute. »So eine war ich auch, aber ich musste bubblegum-farbige Kleider, die mit Herzchen und Bändchen verziert waren, und Rüschenblüschen anziehen.«
Da fiel mir wieder ein, was ich mal in einer Zeitschrift gelesen hatte. »Manche Zwillinge entwickeln ihre eigene Sprache und lernen jahrelang nicht richtig sprechen … aber … wir zwei sind ja nicht eineiig, deshalb …«
»Das spielt doch keine Rolle«, unterbrach sie mich ungestüm. »Zwillinge teilen immer alles. Du hast schon recht, wir beide sollten zusammen sein … findest du nicht auch?«
Etwas an ihrem Blick war so intensiv, dass es mich schauderte. »Es ist ohnehin sensationell, dass wir hier … zusammen sind.«
»Ich kann dich aber jetzt nicht mehr verlassen, Katy. Das weißt du, oder? Ich habe dich so lang gesucht.«
Ich nickte, spürte aber gleichzeitig das mir so sehr vertraute Grauen, obwohl sich Genevieve doch ausnahmsweise fast normal verhielt. »Du willst ja nicht mehr fort von hier … wir werden uns also häufig sehen«, murmelte ich.
»Ich will dich nicht nur einfach
sehen
«, sagte sie verächtlich. »Wir waren schließlich neun Monate lang im Mutterleib zusammen … so ist das nun einmal mit Zwillingen … sie gehören zueinander und du gehörst zu mir, Katy.«
Da kam mir plötzlich wieder in den Sinn, was sie einmal zu mir gesagt hatte:
Am liebsten wäre mir, du wärst nie geboren worden.
Ich wusste zwar noch immer nicht genau, was sie mir damit hatte sagen wollen, aber ich fröstelte schon bei dem bloßen Gedanken daran.
Sie musterte das ruinierte Fischschwanzkleid und fragte: »Hast du überhaupt geschlafen?«
»Nein … nicht eine Sekunde.«
»Ich auch nicht«, gab sie zu. »Dann lass uns erst mal frühstücken.«
Die Küche war ein Traum für Hightech-Fans: schimmernde rot lackierte Türen, Arbeitsflächen aus schwarzem Granit sowie Herd und Spritzschutz aus glänzendem Edelstahl. An dem amerikanischen Kühlschrank, der Kaffeemaschine – und wahlweise fünf verschiedenen Kaffeesorten –, dem Entsafter
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