Besessene
Ich hob sie auf und fuhr mit den Fingern an ihr entlang. Das glänzende Gewebe ließ mich erschaudern und ich warf sie rasch in die Mülltonne. Dann ging ich wieder nach oben in mein Zimmer, schnappte mir den Anhänger und warf ihn ebenfalls in die Tonne. Keine Ahnung, warum ich das nicht früher schon getan hatte.
Meine Stimmung sank schnell wieder in den Keller, als ich in meiner Tasche kramte und feststellte, dass mein Schlüsselring fehlte. Er enthielt mein erstes Foto von Merlin und war ohne Zweifel mein allerwertvollster Besitz. Alssich im College der Inhalt meiner Tasche über den Boden des Waschraums verteilt hatte, war er bestimmt nicht dort liegen geblieben, und mir kam der unliebsame Gedanke, dass Genevieve ihn aus irgendeinem Grund gestohlen haben könnte.
Als ich zu Bett ging, fiel mir auf, dass niemand angerufen hatte, um nachzufragen, wie es mir ging.
Kapitel 10
E rst in der Mittagspause hatte ich Gelegenheit, mit Hannah und Nat zu sprechen. Mit immer noch geröteten Augen schlich ich zu ihrem Tisch in der Cafeteria hinüber. Mein Auftritt war in keiner Weise geplant, trotzdem war ich stolz auf mich, denn er war absolut oskarverdächtig.
»Darf ich es euch erklären?«, begann ich und zog mir einen Stuhl an ihren Tisch. Die beiden wirkten verlegen, verwirrt und ein wenig distanziert. Meine Stimme zitterte, was nicht aufgesetzt war, denn ich war tatsächlich nervös. »Ich … ich hätte euch sagen sollen, was bei mir zu Hause los war. Ich bin einfach nicht klargekommen und das hat … meine Laune sehr gedämpft und ich war einfach seltsam drauf.« Schon rollte die erste Träne über meine Wange und hinunter auf den hässlichen Kunststofftisch. Einige weitere folgten und ich wischte mir mit der Hand über das Gesicht.
Die beiden reagierten sofort. Gleichzeitig kamen sie zu mir und nahmen mich in die Arme.
»Warum hast du uns denn nichts gesagt?«, rief Hannah. »Wir hätten dich doch unterstützen können.«
»Wir wussten ja, dass du im Stress warst«, fügte Nathinzu. »Du hast so viel zu bewältigen, das musste dir doch irgendwann mal an die Nieren gehen.«
Die Gruppenumarmung dauerte noch eine ganze Weile, bis ich mich schließlich daraus losmachte. »Meine Mutter sucht sich jetzt Hilfe, sie will mit verschiedenen Leuten sprechen und es mal mit einer Therapie versuchen.«
Nat trommelte so lange auf meinem Arm herum, bis es mir wehtat. »Das ist super, Katy! Zur Feier des Tages spendiere ich dir jetzt einen doppelten Caffè Latte mit Schokostreuseln.«
»Ich hab euch beide gar nicht verdient«, schniefte ich noch ein bisschen weiter. »Danke, dass ihr so verständnisvoll seid.«
»Wozu hat man schließlich Freunde?«, erklärte Hannah im gleichen Moment, in dem Genevieve zur Tür der Cafeteria hereinkam. Unsere Augen trafen sich und die Zeit blieb stehen. Sie bemühte sich um eine entspannte Miene, als sie unsere drei glücklich strahlenden Gesichter sah, scheiterte allerdings kläglich und ich merkte, wie Wut und Ungläubigkeit sich in ihr bekämpften. Sie ging weiter, versuchte, ebenfalls zu lächeln, doch das Ergebnis glich eher einer Grimasse.
Jetzt zum eigentlichen Star der Szene: Ich stand auf, trocknete meine Tränen und ging ihr entgegen. Ich legte meine Arme um ihren schlanken Körper, worauf sie gleich zurückzuckte, ich sie aber hartnäckig weiter festhielt. Es bereitete mir eine gewisse Freude, ihr Unbehagen zu spüren. Wir waren in einer seltsam symbiotischen Umarmung gefangen und fast war mir, als fließe ein Teil ihres Blutes nun durch meine Adern.
Ich sprach absichtlich mit erhobener Stimme, damit uns alle hören konnten. »Es tut mir leid, wenn ich dir das Gefühl gegeben habe, hier nicht willkommen zu sein. Das ist sonst gar nicht meine Art. Aber … ich hatte Probleme zu Hause.«
»Ist schon okay«, murmelte sie ungnädig. »Hat mir nichts ausgemacht.«
»Nein. Das war unmöglich von mir. Verzeihst du es mir?«
»Ja. Natürlich«, erwiderte sie hölzern.
»Und wir beide sind jetzt Freunde?«
Ich ließ sie los und sie wich zurück, als hätte ich sie geschlagen. Nat hatte sich gerade einen Moment lang mit geöffnetem Portemonnaie abgewandt, um Hannah nach Kleingeld zu fragen, und Genevieve nutzte die Gelegenheit, dass die beiden abgelenkt waren.
»Nur über meine Leiche«, flüsterte sie boshaft.
Ich warf den Kopf in den Nacken und lachte mich halb tot. »Genevieve! Du hast vielleicht einen schwarzen Humor!«
Diese Reaktion hatte sie nicht von mir
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