Besessene
irgendwas im Gange war, das merkte ich an ihren Seitenblicken.
»Schön sind deine Haare heute«, säuselte ich, um die beiden zu beruhigen.
»Findest du?«, antwortete Genevieve völlig ungerührt. »Mein Glätteisen ist mir kaputtgegangen, nur deshalb sehen sie so aus.«
Ich streckte einen Finger aus, wickelte eine ihrer Locken darum und spürte, wie sie zurückzuckte.
»Und, hattest du ein schönes Wochenende?«, fragte sie spitz und lächelte so wissend, dass mir das Blut in den Adern gefror. Vermutlich hoffte sie, dass Nat mich wie Luft behandelt hatte, und ich war heilfroh, dass sich nichts zwischen uns geändert zu haben schien.
»Ja, danke.«
Zusammen gingen wir in unseren Kurs. »Hast du viel für dein Projekt getan, Katy?«
Deshalb also war sie derart selbstzufrieden. Heute hatten wir die letzte Sitzung vor Abgabe unseres Erstsemesterprojektsund Genevieves Entwürfe würden garantiert fantastisch sein. Obwohl sie später als wir ins College eingetreten war, war sie uns allen meilenweit voraus. Ich konnte nicht mit ihr mithalten und das wusste sie genau.
»Dieses Wochenende hab ich nichts mehr gemacht«, gab ich zu. »Ich war schon vorher fertig.«
»Na, dann viel Glück«, sagte sie grinsend. »Ich hoffe für dich, dass du gut abschneidest.«
Ihre Stimmungswechsel waren mir ein Rätsel und ich war froh, an meinen Arbeitstisch gehen zu können und ihr zu entkommen. Dieser ständige mentale Hickhack laugte mich allmählich aus und kostete mich meine ganze Energie. Ich öffnete meine Kunstmappe und starrte entsetzt auf ihren Inhalt. Die Zeit schien plötzlich stehen zu bleiben. Wie benommen nahm ich Blatt für Blatt heraus und sah es an. Halluzinierte ich oder gehörten die Arbeiten jemand anderem? In meinen Ohren rauschte es, als tauche man mich unter Wasser, und der blanke Schrecken kam wie eine Welle über mich. Blaue Farbe hatte meine handgezeichneten Entwürfe nahzu unkenntlich gemacht, und auch meine Stoffmuster waren nicht mehr wiederzuerkennen. Wochenlange Arbeit war zerstört.
Miss Clegg musste mein entsetztes Gesicht bemerkt haben, denn sie kam zu mir herüber. Sie spähte über meine Schulter und gab einen Seufzer von sich.
»Das tut mir leid, Katy. Da hast du wohl keine farbechte Lösung verwendet … dann passiert so etwas manchmal. Schade nur, dass dadurch auch deine anderen Entwürfe beschädigt worden sind.«
Meine Stimme klang unnatürlich schrill und panisch.»Aber am Freitag haben sie noch ganz anders ausgesehen. Sie waren alle schon getrocknet und die Farben noch ganz kräftig. Ich wär doch nicht so dumm gewesen und …«
Sie lächelte verständnisvoll. »Das kann jedem mal passieren, Katy. Du hast ja eine Woche Zeit, um sie noch mal zu machen.«
»Aber es ist die Arbeit von sechs Wochen«, sagte ich mit Tränen in den Augen. »Das kann ich nie und nimmer schaffen, und wenn ich mich zu sehr beeilen muss, dann krieg ich es nicht hin und ich besteh den Kurs nicht …«
Miss Clegg hob die Hand, um mich in meinem Redefluss zu stoppen, und meinte dann mit freundlicher, doch sehr entschiedener Stimme: »Jetzt sieh mal zu, wie du zurechtkommst, Katy. Wenn du nicht fertig wirst mit dem Projekt, dann finden wir schon eine Lösung.« Und damit drehte sie sich um und entfernte sich eilig.
Ich versuchte, das Zittern meiner Unterlippe zu unterdrücken, da ich Angst hatte, dass ich sonst ganz zusammenbrechen würde. Ausgerechnet Miss Clegg, meine Lieblingslehrerin, hatte meinen Auftritt als Drama Queen miterleben müssen und mich energisch in die Schranken gewiesen – für mich beinahe genauso schlimm wie meine ruinierte Arbeit. Ich hätte ihren Rat annehmen und meine Würde wahren sollen. Als ich den Kopf von meinem Tisch hob, schien der ganze Kurs mich anzustarren. Ich kam mir vor wie in dem Traum, den ich gelegentlich träume und in dem ich nackt über eine Straße laufen muss, um nach Hause zu gelangen. Ich fühlte mich so bloßgestellt, dass ich beide Arme um mich schlang, um mich vor den Blicken der anderen zu schützen.
Doch nach einigen Minuten nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sah wieder in die Klasse. Noch immer starrten sie mich alle an, lächelten verlegen. Alle bis auf eine – Genevieve. Konzentriert und ganz vertieft in ihre eigene Arbeit, schien sie nichts um sich herum zu registrieren. In meinem Kopf begann es zu rattern und der erste Anflug eines Verdachts schimmerte auf. An meine Mappe hatte sie doch ganz bestimmt nicht kommen können, oder?
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