Besessene
Eigentlich hatte ich sie immer bei mir gehabt, nur am Freitag hatte ich den Kursraum mal für fünf Minuten verlassen, um ins Sekretariat zu gehen und das Formular mit meinen Kontaktdaten abzugeben. In unserem Raum hatte jede Menge Arbeitsmaterial herumgelegen, und wenn sie sich geschickt verhalten hatte, war auch keinem etwas aufgefallen. Warum war ich nur so schockiert? Diese hinterhältige Racheaktion war doch so typisch für sie. Sie hatte mir schon längst den Krieg erklärt und keinen Zweifel daran gelassen, dass sie mich zerstören wollte. Aber Luke hatte recht. Ich musste dem Drang widerstehen, zum Gegenschlag auszuholen, denn es würde nur zu meinen Ungunsten ausgehen.
Nur leider war das alles nicht so einfach. Ich war so erbost über diese Ungerechtigkeit, dass meine Hände zitterten und ich nur mit Mühe einen Stift in der Hand halten konnte. Ich versuchte zu arbeiten, doch sosehr ich mich auch zur Gelassenheit mahnte, die Wut brodelte in mir, bis sie den Siedepunkt erreichte. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, stand auf und bewegte mich wie eine Schlafwandlerin voran, aber mein Blick war getrübt und der Raum mir plötzlich gar nicht mehr vertraut. Mir war, alshabe sich Genevieve in meinem Gehirn eingenistet, fache die Glut in mir an und treibe mich dazu, eine Szene nach der anderen hinzulegen. Und plötzlich war ich fest entschlossen, mich zu wehren. Aber noch konnte ich meinen Ärger nicht verbergen. Mit einem kleinen, kaum hörbaren Aufschrei lief ich nach draußen auf den Gang und schlug meinen Kopf gegen die kühlen weißblauen Wandkacheln.
Beim Mittagessen war mein Mund so trocken, dass ich nicht schlucken konnte. Das überbackene Thunfischsandwich hatte sich in Sägemehl verwandelt und sogar der feuchte zähflüssige Muffin blieb mir im Hals stecken. Stattdessen trank ich brühheißen Kaffee in großen Schlucken und mein Herz raste noch schneller als ohnehin.
Dann betraten Genevieve, Nat und Hannah die Cafeteria.
»Wir haben schon gehört, was dir passiert ist«, sagte Nat. »Das ist ja wirklich fürchterlich!«
»Können wir irgendwas für dich tun?«, bot Hannah an.
Ich zog die Nase hoch und zwinkerte vor lauter Angst, gleich wieder flennen zu müssen. »Nein … aber danke. Da muss ich mich jetzt selbst durchwursteln.«
»Ich könnte dir ja helfen, damit du rechtzeitig fertig wirst«, sagte Genevieve und mir blieb nichts anderes übrig, als sie zu beachten. Ihre kalten grünen Augen sahen mich völlig emotionslos an.
»Dann wird man mir nur anlasten, abgekupfert zu haben«, sagte ich ganz offen und fragte mich, ob das wieder einer ihrer Tricks war. »Und das wäre noch schlimmer, als gar nichts abzugeben.«
Sie zuckte bedauernd mit den Achseln. »Vermutlich.«
»Trotzdem vielen Dank für dein Angebot, Genevieve«, bemerkte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Wirklich sehr aufmerksam von dir, ich weiß es zu schätzen.«
Nach dem Unterricht machte ich abseits der Hauptstraßen einen großen Umweg nach Hause, obwohl ich schon wusste, dass Mum das nicht gefallen würde. Das Wetter trat in Sympathiestreik mit mir – Dauernieselregen und der Himmel bedeckt von tief hängenden grauen und schwarzen Wolken. Ich hob nicht mal die Füße, wenn ich durch die Pfützen ging, und meine Schuhe machten glucksende Geräusche. Diese Strecke führte durch eine schmale Straße mit Reihenhäusern aus dem 18. Jahrhundert, die in unterschiedlichen Farben gestrichen waren – von zartem Blassrosa bis Taubengrau – und weitläufige Gärten besaßen. Es war friedlich hier, fernab von Autolärm und Abgasen. Die Straße war nicht einmal richtig befestigt, im Grunde nur ein Pfad, auf dem früher einmal Pferdekutschen gefahren waren.
Immer wieder ging ich im Geiste durch, was heute geschehen war. Ich führte sogar laute Selbstgespräche mit mir, da außer einer lästigen Krähe, die mir krächzend folgte und auf- und niederhüpfte, niemand in der Nähe war. Misstrauisch sah ich sie an und versuchte herauszufinden, ob ihr eine Schwanzfeder fehlte, musste aber selber lachen, weil ich es so albern fand. Dann plötzlich überfiel mich ein diffuses, sehr unbehagliches Gefühl, und obwohl ich keine Schritte gehört hatte, drehte ich mich abrupt um und schnappte nach Luft. Genevieve. Sie musste sich so leise wie ein Panther bewegt haben und stand mir nun gegenüber.
»Du wohnst in der entgegengesetzten Richtung, Genevieve«, sagte ich unhöflich.
»Stimmt, aber ich wollte dir mein Mitgefühl
Weitere Kostenlose Bücher