Besessene
Antwort war meine einzige Chance – eine Art Schadensbegrenzungsmanöver.
»Ich helfe Luke zur Zeit bei etwas und deshalb habe ich dir nichts gesagt. Du weißt ja, er ist Journalist … und … na ja … er stellt gerade Nachforschungen über jemanden an. Es handelt sich nicht direkt um eine verdeckte Ermittlung, aber es ist auch keine Sache, die man laut herausposaunen sollte.«
»Vielleicht stellt ja auch jemand Nachforschungen über dich an«, kommentierte Merlin trocken.
»Wüsste nicht, wer.« Ich zog eine Grimasse.
Merlin hatte noch nichts von dem Zwischenfall mit meiner Kunstmappe erfahren, deshalb informierte ich ihn über die Einzelheiten und warum das kein Zufall sein konnte. Er saß da und dachte nach, signalisierte auch Verständnis, aber berührt hatte er mich immer noch nicht. Ich wusste genau, wie sehr es mich treffen würde, wenn er einen ganzen Tag mit einem anderen Mädchen verbringen und es mir verschweigen würde. Ich konnte ihm seine Reaktion also kaum verdenken und seltsamerweise schmeicheltemir seine Eifersucht auch ein wenig. Ich stand auf, beugte mich über den Tisch, küsste ihn mitten auf den Mund und atmete den Geruch von Farbe und etwas Einzigartigem ein, das nicht definierbar, eben einfach Merlin war.
»Ich würde dir nie wehtun wollen und auch nicht untreu sein … das finde ich erbärmlich.«
Merlin lehnte sich auf seiner Lederbank zurück und ich sah, wie die Anspannung langsam von ihm abfiel. »Verzeih mir das Verhör, aber diese Geschichte hat mich beinahe aufgefressen.« Er legte eine Hand auf den Tisch, spreizte die Finger und ich legte meine darauf.
Das Eis zwischen uns war jetzt gebrochen und ich fasste mir ein Herz und fragte: »Wer hat dir denn erzählt, dass Luke und ich zusammen weggefahren sind?«
Einen kurzen Moment lang huschte ein Hauch von schlechtem Gewissen über Merlins Gesicht und er rieb sich leicht verlegen die Nase. Dann musste er mir reinen Wein einschenken.
»Es war nur eine harmlose Bemerkung«, murmelte er. »Keine böse Absicht. Genevieve wollte shoppen gehen, um ein Geschenk für Nat zu kaufen, konnte dich aber nicht erreichen. Deine Mutter muss wohl erwähnt haben, wo du warst.«
Keine böse Absicht! Das sollte wohl ein Witz sein. Durch jede einzelne von Genevieves Adern floss pure Bosheit, doch offensichtlich war ich die Einzige, die es bemerkte. Auch Mum konnte ich nicht dafür verantwortlich machen. Es blieb nur eine Lösung: Ich musste ein Doppelleben führen, so wie Luke es mir geraten hatte, und mich in eine Art gespaltene Persönlichkeit verwandeln.
Auf dem Rückweg liefen wir am Kanal entlang. Ein paar Lastkähne in bunten Farben fuhren an uns vorbei und ich stellte mir vor, wie schön es wäre, wenn man das ganze Jahr lang unterwegs sein könnte, niemals am gleichen Ort, und an Deck schlafen würde, wenn es warm genug war. Merlin musste meinen sehnsüchtigen Blick gesehen haben, denn er legte beide Arme fest um mich.
»Wir könnten auch so leben … wie Zigeuner … so lang es uns gefiele.«
Für einen Moment verdrängte ich Genevieve und alles, was mit ihr zusammenhing, und malte mir aus, wie es wäre, wenn Merlin und ich ganz für uns wären und es niemanden gäbe, der Missverständnisse verursachte.
»Viel Geld würden wir nicht brauchen«, stimmte ich ihm zu. »Du könntest malen und ich könnte Kleider nähen oder ändern. Und niemand würde uns dabei stören.«
Er zog mich auf die nächste Bank und drückte sein Gesicht an meines, sodass wir wie die Eskimos mit unseren Nasen aneinanderstießen. Dabei hielt er mich so fest am Arm, dass ich am nächsten Tag sicherlich blaue Flecken haben würde, aber das war mir egal. Ich wollte, dass die Zeit genau jetzt stehen blieb, wollte mir diesen vollkommenen Augenblick bewahren. Wir schwiegen beide lange und mir kam der kindische Gedanke, dass ich nie mehr in meinem Leben so stark für jemanden empfinden würde.
»Ich sehe dich überall«, flüsterte er. »Auf der Straße, an jeder Ecke, auch wenn du gar nicht da bist. Du hast mich verhext, Katy. So habe ich noch nie für ein Mädchen gefühlt.«
Einen Moment lang beschworen seine Worte ein entsetzlichesBild in mir herauf – das von Genevieve mit ihrer betörenden Schönheit und ihrer mysteriösen Gabe, überall gleichzeitig zu sein. Ich kniff die Augen zusammen, weil ich es unbedingt aus meinem Kopf verbannen wollte.
So habe ich noch nie für ein Mädchen gefühlt.
Ich war es ja, die Merlin meinte, und er
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