Besessene
ihre Marionette wäre. Dann plötzlich packte sie ihren Kopf mit beiden Händen und fing zu schreien an – doch eigentlich war ich es, die da schrie, obwohl ich keine Stimme hatte –, ein stummer, angstvoller Ohnmachtsschrei war es, den ich an ihrer Stelle von mir gab.
Panisch sah ich mich im Abteil um, überzeugt davon, dass mir ein schauerlicher Laut entfahren sein musste, aber keiner der Mitreisenden nahm auch nur Notiz von mir. Jetzt drang Genevieve also schon in meine Tagträume ein. Da der Zug gleich in den Bahnhof einfahren würde, nahm ich meine Tasche und bemühte mich um einen fröhlichen und entspannten Gesichtsausdruck.
»Katy!«
Zwei rundliche Arme umfingen mich und ich atmete Grans Parfum ein, das wie immer nach Zitronen duftete. Als ich meinen Kopf etwas zur Seite wandte, spürte ich Granddads kratzigen Schurrbart auf meiner Wange.
»Na, du warst wohl im Krieg«, sagte er mit seiner barschen Stimme.
»Nein, es ist nichts Ernstes, nur mein Knöchel. Vor ein paar Tagen bin ich noch mit Krücken rumgelaufen und durfte den Fuß überhaupt nicht belasten.«
»Hast du zu viel getanzt?« Gran lächelte und auf jeder ihrer Wangen erschien ein Grübchen.
Granddad bestand immer noch darauf, mir eigenhändig den Sicherheitsgurt anzulegen, bevor wir in das Dorf fuhren, in dem meine Großeltern leben, und Gran nahm mich sofort am Arm, als wir aus dem Wagen stiegen.
»Jetzt komm erst mal in die Küche und dann mache ich uns eine schöne Tasse Tee. Es gibt frische Scones und Schokoladenkuchen und die Kekse, die du so gerne magst. Ich hoffe, du hast immer noch einen gesunden Appetit. Für Teenager, die sich zu Tode hungern und wie Skelette aussehen, habe ich nämlich gar nichts übrig.«
In der Küche mit der altmodischen Speisekammer hatte sich seit meinem letzten Besuch nichts geändert. Hier standen noch derselbe uralte Gefrier-Kühlschrank, das große Spülbecken aus Emaille und der runde Tisch mit Marmorplatte, um den wir alle immer saßen.
Wenn ich nervös war, hatte ich meistens Hunger. Gran ließ mich erst einen leicht aus der Form geratenen Scone verschlingen und anschließend den Schokoladenkuchen in Angriff nehmen, bevor sie sich ein Herz fasste und fragte:»Und … wie geht es deiner Mum … Rebecca … ich meine, ist alles so weit in Ordnung bei ihr?«
»Es geht ihr eigentlich ganz gut«, erwiderte ich mit so vollem Mund, dass die Kuchenkrümel flogen. »Sie geht jetzt öfter aus dem Haus und beginnt mit einer Therapie. Sie hat sogar davon gesprochen, dass sie wieder arbeiten will.«
Grans Miene hellte sich auf. »Das ist ja wunderbar. Dann werde ich sie anrufen … wir könnten euch doch mal wieder besuchen kommen. Das haben wir eigentlich immer vor, aber … manchmal … so einfach ist es eben nicht mit ihr.«
Sie hüstelte verlegen und bestrich ihren Scone besonders sorgfältig mit Butter, um ihr Unbehagen zu überspielen. Aber mir musste sie nichts vormachen, ich wusste ja, warum die beiden uns nicht häufiger besuchten – Mum ließ sich immer wieder neue Ausreden einfallen.
»Weiß denn Rebecca, dass du bei uns bist?«, fragte Granddad.
Ich schüttelte den Kopf und er murmelte: »Aha«, als sei das von besonderer Bedeutung.
Ich musste mehrmals schlucken, denn meine Zunge schien am Gaumen festzukleben, und sagte schließlich: »Ich … muss euch etwas fragen.«
»Ja, was denn?«, fragten beide wie aus einem Munde.
»Ich möchte etwas über die Zeit wissen, als ich ein Baby war.«
Einen Moment lang herrschte verlegene Stille, dann sagte Gran: »Du bist jetzt fast erwachsen, Katy … wir haben uns schon gedacht, dass du bald Fragen stellen wirst.«
»Geht es um deinen Vater?«, fragte Granddad behutsam.
»Hm … nicht direkt. Es ist nur … ich habe neulich meine Geburtsurkunde gefunden und möchte etwas über den Ort erfahren, an dem ich geboren wurde.«
Die beiden warfen sich einen beunruhigten Blick zu. »Ich bin nicht sicher, ob wir mit dir darüber sprechen sollten, ohne dass Rebecca davon weiß«, murmelte Gran. »Eigentlich solltest du sie fragen.«
»Aber sie will ja nicht mit mir darüber reden«, rief ich frustriert. »Ich weiß genau, dass sie’s nicht tut. Sie hat mir ja noch nicht einmal erzählt, dass ich in einer anderen Stadt geboren wurde, und wenn ich ihr Druck mache … dann wird sie doch nur wieder krank.«
Granddad erhob sich von seinem Stuhl und meinte brummend, er müsse mal nach seinen Pflanzen sehen, obwohl es
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