Besser so als anders
war der Ansicht, dass ihr Verhältnis aufgrund des großen Altersunterschieds nur von kurzer Dauer sein würde. Kürzlich – etwa eine Woche vor Bees Hochzeit – hatte sie ihn gefragt, ob er eigentlich etwas gegen ein weiteres Kind einzuwenden habe. Er konnte ihr darauf keine Antwort geben.
»Lass uns das besprechen, wenn ich aus Maryland zurück bin«, hatte er gesagt und sie auf die Stirn geküsst.
Kurz hatte er überlegt, Sarah mit auf die Hochzeit zu nehmen, wollte ihr aber keine falschen Hoffnungen bezüglich seines Engagements machen. Er war nun Mitte vierzig und nicht sicher, ob er eine Beziehung mit einer Frau führen wollte, die auf Familie aus war. Und offen gestanden wollte er auch nicht, dass Sarah ihn nach Maryland begleitete und mitbekam, wie die Familie seines Bruders ihn behandelte. Für Sarah war Joe ein Gott. Doch in Maryland, bei Richard und Donna, wäre er nur ein Versager. Joe wollte nicht, dass irgendwer aus Las Vegas erfuhr, welche Meinung sein Bruder und seine Schwägerin von ihm hatten.
Nachdem er seinen Mietwagen auf dem kleinen Parkplatz hinter dem ruhigen Hotel geparkt hatte, stellte Joe sich brav in die Schlange vor der Rezeption, um einzuchecken.
Der kleine hübsche Backsteinbau irritierte ihn. Er war an helle Beleuchtung, viel Glas und protzige Hoteleinrichtungen gewöhnt. Dieser Ort hingegen glich eher einem Seemannsidyll, mit braunen Ledersesseln und Bildern von Schiffen und Wellen an den holzgetäfelten Wänden. Vor ihm standen ein paar Geschäftsleute, ein Pärchen, das ihm bekannt vorkam – vielleicht seine Cousins zweiten Grades – und ganz vorne in der Reihe eine Frau mit einem Gitarrenkoffer auf dem Rücken. Als sie sich mit dem Schlüssel in der Hand vom Holztresen entfernte, konnte Joe es nicht lassen, trat aus der Schlange und ging ihr nach. Für Frauen mit Instrumenten hatte er eine Schwäche. Mit ein paar flinken Schritten folgte er der Unbekannten zum Fahrstuhl und rief ihr hinterher: »Sind Sie Musikerin?«
Die junge Frau wirbelte herum und stieß dabei Joe den Gitarrenkoffer fast ins Gesicht. Normalerweise sind Musiker vorsichtiger mit ihren Instrumenten, dachte er. Sie wirkte genervt, doch dann entspannten sich ihre Gesichtszüge plötzlich.
Joe spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Diese Frau war wunderschön, dachte er. Und ihr Haar war so wie das von Vicki, nur schulterlang, es war fein und rabenschwarz. Doch anders als bei Vicki, deren Haar zu ihren dunklen, asiatischen Augen und der matten, olivfarbenen Haut gepasst hatte, erinnerte ihn der Teint dieser Frau an Schneewittchen. Ihr dunkler Bob umrahmte ihr fast durchsichtiges, elfenbeinfarbenes Gesicht. Sie trug kein Make-up, ihre Lippen wirkten kalt und waren violett geschminkt. Joe musste sich sogleich schämen, weil er sich vorstellte, wie diese Frau wohl mit einer Frisur wie der von seiner kleinen Fee aussehen und ob sie dann Vicki aus Reno mehr ähneln würde. Er überlegte, wie sie wohl nackt aussah und fragte sich, ob es ihr etwas ausmachen würde, wenn er sie Vicki nannte. Er zwang sich ruhig zu bleiben und nicht zu erröten.
Joe atmete tief durch und erkundigte sich, ob sie in Annapolis vielleicht ein Konzert habe. Vielleicht könnte er sich von der Hochzeit wegschleichen und es besuchen?
»Nein, nein, Gitarre spielen ist nur ein Hobby für mich. Ich bin zu einer Hochzeit eingeladen.«
Joe entspannte sich, denn jetzt war er sich sicher, dass er sie nicht aus den Augen verlieren würde. Er stellte sich als Bees Onkel Joe vor, bereute aber sogleich, dass er sich selbst so alt gemacht hatte.
»Ich bin Vicki«, sagte sie und dann noch irgendwas – doch das hörte Joe nicht mehr.
Joe hätte der Hochzeit fernbleiben können. Donna hatte wahrscheinlich sogar damit gerechnet, dass er absagen würde, um den Familienverpflichtungen an der Ostküste aus dem Weg zu gehen. Und trotzdem hatte er ein Ticket gekauft, einen Wagen gemietet und bereits vor Monaten ein Hotelzimmer gebucht, gleich nachdem er die Einladung erhalten hatte. Er war davon ausgegangen, dass die für ihn so untypische Begeisterung für eine Hochzeit etwas mit seiner Liebe für Bee zu tun hatte, die ihn als Kind immer so angehimmelt hatte. Doch nun schien es ihm als eine seltsame kosmische Fügung, dass er hier war. Und vielleicht war es ja mehr als nur seine Angst vor einer Bindung gewesen, die dazu geführt hatte, dass er Sarah nicht mitgebracht hatte.
Joe war ein spiritueller Mensch. Nicht unbedingt abergläubisch, aber er
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