Besser
kleiner wirken, als er ist, ohne dass es jemand merkt. Er wollte das einfache, kleine Leben. Vielleicht ist es das, was uns so sehr verbindet, dass wir beide von einem bösen Ereignis, dessen Teil wir waren, von einer Schuld dazu gebracht wurden, unsere Möglichkeiten limitieren zu wollen. Ich meine, er seine, unsere Möglichkeiten waren doch zu unterschiedlich. Wir wollten beide nicht das werden, was für uns vorgesehen war. Ich weniger zornig und weniger traurig, Moritz weniger sichtbar und weniger bedeutend.
Es sind übrigens fast durchgehend Männer, die ihn erst einmal für nicht besonders beschlagen halten. Frauen beurteilen Männer aufs Erste in anderen Kategorien, und die meisten Frauen finden Moritz umstandslos: süß. Attraktiv, lustig und süß. Attraktiv, merkwürdig und lustig und süß. Attraktiv, anstrengend und merkwürdig und lustig und süß. Je länger sie ihn kennen, desto weiter nach hinten rutscht das süß. Er ist süß, ja, und er ist der loyalste, treueste und liebenswürdigste Mensch, den ich in meinem Leben kennengelernt habe, Adam eingeschlossen. Denn im Unterschied zu Adam, der dafür nichts kann, ist Moritz treu und loyal, obwohl er mich kennt. Moritz weiß alles über mich, und er findet meine inneren Narben in Ordnung, er findet, dass einen Narben besser und schöner machen, wenn man sie respektiert und gut pflegt und jeden Tag schmiert und sie dann in Ruhe verblassen lässt. Moritz nimmt, schon aus professionellen Gründen, Verletzungen, auch alte, scheinbar verheilte Verletzungen, sehr ernst. Er weiß, dass sie einen verändern und prägen, aber er ist auch überzeugt, dass man nicht zwangsläufig die Summe seiner Taten und Traumata ist. Er kennt meine Taten und meine Verletzungen, seit meinem völligen Zusammenbruch vor bald zehn Jahren, seit Astrid nicht mehr weiterwusste und mich schließlich in die Klinik brachte, zwei Jahre, bevor ich Adam kennenlernte. Moritz war dabei, als ich mich wieder zusammenpuzzelte. Als ich anfing, zu akzeptieren, wer ich war. Und wer ich geworden war.
Nichts bereitet dich darauf vor, eine Frau sterben zu sehen, durch deine Schuld. Deine Mitschuld zumindest, dein Nicht-Handeln, dein Nicht-Eingreifen. Moritz weiß, dass nichts die Schuld und den Schmerz jemals ausradieren kann. Aber Moritz behauptet auch, dass es heilsamer ist, den Schmerz anzunehmen, als ihn zu ignorieren. Zu wissen: Dieser Schmerz wird niemals ganz weggehen, ein Stück davon wird immer bleiben, es ist besser, sich mit diesem Schmerz zu arrangieren. Mit ihm zu leben, statt an ihm zugrunde zu gehen. Ich lerne das seit Jahren. Es dauert, ich bin noch nicht sehr gut darin. Ich lerne langsam, aber ich lerne.
Außer meiner Schwester ist Moritz der Einzige, der über mich Bescheid weiß. Ich habe ihm irgendwann alles erzählt. Und ich habe nie eine Sekunde bereut, dass ich ihm mein Vertrauen geschenkt habe, mein scheues, missbrauchtes, stets fluchtbereites Vertrauen.
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Dreizehn
«Rate, was.»
«Rate was was?»
Adam legt sein iPhone auf den Tisch. Er grinst enthusiastisch.
«Rate, was ich eben erfahren habe.»
«Von wem erfahren?» Ich klebe Juri die Windel fest, ziehe die Strumpfhose über seinen Popo. Er greint unzufrieden, er war ganz rot von dem Durchfall, den er seit gestern hat. Der Gestank ist sogar für eine Mutter schwer zu ertragen. Ich schmatze ihm einen feuchten Kuss auf die Wange, er quietscht und reißt mich an den Haaren, was ich hasse.
«Rate.»
«Adam! Bitte! Von wem? Was?»
Ich stemme mich mühsam hoch und stopfe die alte Windel tief in den Mülleimer. Seit er einmal vom Tisch gefallen ist und sich den Unterarm brach, wickle ich Juri am Boden. Schlecht für einen eh schon kaputten Rücken, ich sollte dringend zum Osteopathen. Und vielleicht wirklich mal mit Jenny zum Yoga, womöglich bin ich jetzt so weit. Und überhaupt endlich einmal in die Röhre, Adam schimpft mich schon deswegen. Und Moritz kann sowieso überhaupt nicht fassen, dass ich nicht endlich etwas unternehme. Aber ich mag nun mal keine Ärzte. Altes Trauma. Moritz dagegen verbringt viel Zeit bei Ärzten und Ärztinnen, meistens alten Freunden, die ihm in langen Gesprächen versichern und mit Röntgen- und Ultraschallbildern beweisen, dass er die Krankheit, die er sich eben wieder eingebildet hat, den Krebs, der ihn ganz sicher noch in diesem Jahr umbringen wird, nicht hat und überhaupt völlig gesund ist.
Juri krabbelt unter die Sitzbank und verstummt, offenbar hat er dort
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