Besser
manchmal abends nicht heim, und dann hörten wir sie spätnachts durch das Haus poltern. Hin und wieder kam sie in der Nacht gar nicht heim. Wenn wir fragten, wo sie war, antwortete sie ausweichend oder sagte, das gehe uns nichts an, bis wir nicht mehr fragten. An manchen Tagen stand sie einfach gar nicht auf, blieb in ihrem Zimmer und tappte in ihrem gelben, gesteppten Morgenmantel nur heraus, wenn sie Nachschub für ihre Tasse brauchte. Ich habe mich lange gefragt, was sie in ihrem Zimmer machte, wir hätten uns nie hineingetraut, aber heute glaube ich: gar nichts. Jetzt, wo ich das selber kenne, vermute ich, sie schaute an die Decke oder zum Fenster hinaus und machte gar nichts.
Als Astrid acht war und ich zehn, wollte meine Mutter sich das Leben nehmen. Tanja war nicht da. Es war Abend, schon dunkel. Wir saßen auf dem Sofa und sahen fern. Sie hatte schon ein paar Teetassen getrunken. Sie stand auf und sagte, sie kann nicht mehr, es tut ihr leid, sie will nicht mehr leben. Sie strich uns mit ihrer flatternden Hand über die Gesichter, dann ging sie durchs Wohnzimmer, die Treppe hoch und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Wir begriffen nicht gleich. Wir sahen ihr nach und sahen uns an und dann standen wir auf und gingen die Stiegen hinauf zu ihrer Tür und hörten, wie etwas klirrend zu Boden fiel und zerbrach. Wir klopften. Ich weiß nicht, ob Astrid zuerst weinte oder ich, aber ich weiß noch, dass ich eine rote Wollstrumpfhose trug und ein hellblaues Kleid mit roten Nähten und aufgesetzten roten Taschen, das sie erst ein paar Tage zuvor mitgebracht hatte. Wir rüttelten an der Türklinke und riefen nach ihr, sie antwortete nicht. Wir schrien, wir bettelten, sie solle die Tür aufmachen, wir versprachen ihr, immer brav zu sein. Ihr Bett knarrte, wir hörten sie aufschluchzen, dann nichts mehr. Wir standen an der Tür und weinten und schrien und klopften, endlos, es kam uns endlos vor. Dazwischen drückten wir unsere Ohren an die Tür, aber da war kein Geräusch mehr im Zimmer. Ich weiß nicht, wie lange wir da warteten, eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei. Dann ging die Tür auf, Mutter stand da, sah uns nicht an, ging vorbei aufs Klo, und wir hörten, wie sie sich übergab, wir hörten sie würgen, wie es in die Klomuschel platschte und wie sie weiterwürgte, sehr lange. Dann kam sie heraus, bleich, mit feuchten, geröteten Augen und sagte, es sei Zeit für uns, ins Bett zu gehen. Das war alles. Mehr sagte sie nicht.
Am nächsten Tag war sie wieder bei der Arbeit, und als ich von der Schule heim in das leere Haus kam, zog ich den Schlüssel von ihrer Schlafzimmertür ab und spülte ihn im Klo hinunter. Als sie zurückkam, stellte sie die Flaschen vor die Tür, räumte die Küche auf und machte einen Braten mit Soße, Kroketten, Erbsen und Karotten. Ich weiß noch, was es zum Nachtisch gab: Paradiescreme mit Smarties. Wir sprachen nie über den Abend zuvor, nicht an diesem Tag und an keinem anderen.
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Fünfzehn
Letzten Sommer verbrachten wir zehn Tage bei Jenny auf dem Land. Sie hat einen alten Bauernhof gekauft und hergerichtet. Ich weiß nicht, woher alle meine Freunde das Geld haben, um sich einfach mal so ein Haus zu leisten und herzurichten, aber sie haben es. Ich hatte mich von Jenny überreden lassen, sie mit den Kindern zu besuchen, weil Adam mit seinem Vater für ein paar Tage nach New York musste, um seine Großmutter zu beerdigen, die kurz davor im Alter von vierundneunzig Jahren gestorben war, ein paar Tage nach ihrem Geburtstag, und um ihren Nachlass zu regeln. Die Großmutter war im Krieg in die USA geflohen, fast im letzten Moment. Sie hatte dort einen anderen Flüchtling geheiratet, mit ihm eine Reinigungsfirma gegründet, die bald florierte, und drei Kinder bekommen. Eins davon, Adams Vater Robert, war nach Österreich gekommen: Er wollte nur ein paar Monate hier studieren und sich das Land ansehen, das den Großteil seiner Verwandtschaft umgebracht hatte, aber dann hatte er Gerda, die Tochter eines wohlhabenden Salzburger Brauereibesitzers, getroffen, bald geheiratet und war geblieben, zum Leid seiner Mutter, die nie wieder deutsch sprach und keinen Fuß mehr nach Österreich setzte, niemals wieder, auch nicht zur Hochzeit ihres Sohnes. Ganz besonders nicht zur standesamtlichen Hochzeit ihres Sohnes mit einer katholischen Frau, mit der sie allerdings später, nachdem Adam geboren war, ein nicht inniges, aber freundliches Verhältnis pflegte. Adams Vater flucht noch
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