Bestialisch
Taten meines Bruders schämte, änderte ich meinen Namen, verschleierte meine persönliche Geschichte und weigerte mich, ihn zu besuchen.
Es war Vangie, die mich mit Jeremys Hilfe fand und überredete, eine Beziehung zu meinem Bruder aufzubauen. Und später hatten Jeremy und ich gelegentlich zusammengearbeitet – falls man es so nennen kann und er hatte mir mit seinen einzigartigen Einsichten geholfen, die Verbrechen zu verstehen. Sein Gespür für Geisteskranke war so fein kalibriert, dass er einmal geprahlt hatte, er könnte durch eine x-beliebige Shopping-Mall spazieren und ein halbes Dutzend Menschen herausfiltern, die »entweder davon überzeugt waren, dass Marsianer ihre Gedanken lasen, oder so finstere Ansichten hegten, dass sich selbst Torquemada übergeben müsste«.
Mein Bruder war nicht nur geisteskrank, sondern auch ein Geigerzähler für den Wahnsinn anderer.
KAPITEL 3
Das Empfangspersonal in dem Midtown-Hotel war über meine Ankunft informiert und behandelte mich äußerst zuvorkommend, obwohl meine Garderobe angeschmutzt war und meine Schuhe auf dem Marmorboden Abdrücke hinterließen. Man nannte mir ein nahe gelegenes Geschäft, wo ich eine Hose, drei Baumwollhemden, eine helle Sportjacke, ein Paar Laufschuhe, Unterwäsche und Socken erstand.
Kaum hatte ich das triste, ausschließlich in Schwarz, Grau und Grauweiß gehaltene Doppelzimmer in der dritten Etage betreten, schaltete ich den Fernseher ein. Ich brauchte dringend etwas Farbe im Raum und Ablenkung. Nach dem Duschen packte ich meine neuen Oberhemden aus, wusch sie im Handwaschbecken, damit die Falten und die Appretur herausgingen, und wrang sie aus, so gut es ging. In der kühlen Luft aus der Klimaanlage würden sie bis zum nächsten Morgen trocknen und konnten dann gebügelt werden. Mit den Unterhemden verfuhr ich ebenso.
Das Telefon läutete, und der Empfang informierte mich darüber, dass gerade ein Paket für mich abgegeben worden war. Ein kleiner Latino brachte mir den Umschlag aufs Zimmer. Links oben in der Ecke prangte der NYPD-Stempel. Das waren die Berichte, von denen Waltz gesprochen hatte. Wie er schon angedeutet hatte, ließ der Stand der Dinge zu wünschen übrig, doch das verwunderte angesichts der kurzen Dauer der Ermittlung nicht.
Der vorläufige Bericht der Spurensicherung, die Vangies Zimmer untersucht hatte, kam zu folgendem Ergebnis: keine Kampfspuren, kein Blut, keine erkennbaren Körperflüssigkeiten, keine Anzeichen, dass etwas geraubt oder der Raum durchsucht worden war. Vermerkt war auch, dass man in ihrem Schrank ausschließlich Freizeitbekleidung gefunden hatte, die etwa für eine Woche reichte und darauf hindeutete, dass ihre Reise nicht beruflich motiviert gewesen war.
Andererseits hatte Vangie Prowse mit einer Kamera ein Video gedreht, meine Erfahrung mit Serienmördern erwähnt und verkündet, sie hätte eine befremdliche Entscheidung getroffen und wäre »mit Dingen befasst, die nicht unbedingt sinnvoll erscheinen, aber ich brauche einen seriösen …«.
Vangie war nicht in der Lage gewesen, den Satz zu beenden. Sie brauchte einen seriösen was? Wieso befasste sie sich mit Dingen, die nicht unbedingt sinnvoll erschienen? Und als wäre die Botschaft nicht schon kryptisch genug, blickte sie auch noch in die Kamera und entschuldigte sich.
»Carson, es tut mir unendlich leid.«
Was zum Teufel hatte Vangie getan?
Ich lag auf dem Bett, starrte an die Decke und ließ mir diese Frage hundertmal durch den Kopf gehen, bis ich langsam eindöste und in einen unruhigen, schweißgebadeten Schlaf fiel.
Das Läuten des Telefons auf dem Nachttisch weckte mich. Ich ließ versehentlich den Hörer fallen, zog ihn an der Strippe hoch und presste ihn ans Ohr.
»Hmm?«
Waltz. »Wir haben eine Tote, Detective Ryder. Ziemlich schlimme Sache.«
»Kenne ich sie?«, murmelte ich, noch halb verschlafen.
»Mann, wachen Sie endlich auf, Detective. Nein, Sie kennen sie nicht. Gott, das hoffe ich jedenfalls. Ich bin am Tatort und schicke Ihnen einen Wagen. Warten Sie vor dem Hotel.«
»Äh, Waltz, hören Sie. Ich muss mich erst mal …«
Er hatte schon aufgelegt. Auf der Uhr war es zehn nach acht Uhr abends. Ich hatte zwei Stunden geschlafen. Da meine gewaschenen Hemden noch feucht waren, blieben mir nur die getragenen Klamotten, die nach Schweiß und Verzweiflung rochen. Beim Anziehen hielt ich die Luft an und stürmte dann nach draußen.
Das Tageslicht schwand schnell. Die tief stehende Sonne färbte den Himmel
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