Bestialisch
selten über deine Familie gesprochen hast und meines Erachtens Einzelkind bist. Das stimmt doch, oder?«
Schon eigenartig, was ich alles tat, um wenigstens halbwegs den Anschein der Unbescholtenheit aufrechtzuerhalten. Statt zu lügen, erging ich mich in Andeutungen. Ich führte niemanden aufs Glatteis, sondern ließ mein Gegenüber Schlüsse ziehen. Ich wich Fragen nicht aus, aber ich antwortete ausweichend.
»Ach, Mist«, stöhnte ich und warf wie ein geübter Schauspieler einen Blick auf meine Uhr.
»Was ist denn?«
»Mir ist gerade aufgefallen, wie spät es schon ist. Ich muss dringend zu einem Meeting, das schon angefangen hat.«
»Ich habe schon gehört, dass die New Yorker immer unter Strom stehen. Pass auf dich auf und lass dich von denen dort oben nicht aus der Puste bringen. Ach, Carson?«
»Ja, Tom?«
Sein Tonfall veränderte sich. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie er besorgt die Stirn runzelte. »Du wirst den Mistkerl doch kriegen, oder? Diesen Ridgecliff?«
»Tag und Nacht denke ich an nichts anderes, Tom.«
»Schnapp ihn dir, Junge. Bring ihn zur Strecke.«
Wir legten auf. Obwohl es in dem Raum kühl war, trat mir der Schweiß auf die Stirn und das Hemd klebte an meinem Oberkörper. Dass Shelly sich bei Tom Mason nach mir erkundigte, war im Grunde genommen nichts Ungewöhnliches. Zwei Cops unterhielten sich über mich, das einzige Thema, das sie verband. Dennoch führten Fragen über meine Vergangenheit stets dazu, dass mein Herz schneller schlug, und so war es auch in diesem Fall.
Ich lief los und erreichte das Revier um Viertel nach neun. Das Team hatte sich im »Ridgecliff-Raum« versammelt, einem Besprechungszimmer mit einem Schwarzen Brett, an das die Fotos und der zeitliche Ablauf gepinnt waren. Bullard und Cluff kämpften mit Kaffee gegen ihre Müdigkeit an. Ich schaute zu Alice Folger hinüber. Sie lächelte und zwinkerte mir kurz zu. Waltz, der die Berichte der Nachtschicht durchblätterte, hob den Blick.
»Sie haben uns gestern einiges erzählt, Detective, und uns den Eindruck vermittelt, Sie wüssten, wie Ridgecliff vorgeht.«
»Langsam ergeben die Puzzleteile ein Bild, Shelly.«
»Sind Sie wirklich der festen Überzeugung, dass Ridgecliff sich als Geschäftsmann ausgibt? Denn alle anderen gehen davon aus, dass er sich unter die Obdachlosen mischt.«
»Auch wenn er sich für ausgesprochen clever hält, ist er doch ziemlich festgelegt und handelt entsprechend seinem Naturell.«
»Und nachdem er jahrelang in Schlafanzügen und Hausschuhen herumlaufen musste, hat er jetzt das Bedürfnis, sich mal richtig in Schale zu werfen?«
»Das ist keine Frage des Wollens, sondern ein Muss. Er muss in eine Rolle schlüpfen, die der eines Anstaltinsassen diametral entgegengesetzt ist.«
»Mir ist schleierhaft, wie Ridgecliff das bewerkstelligen will«, meinte Bullard und warf Folger einen Blick zu, um sich zu vergewissern, ob sein Einwand professionell genug klang.
Ich winkte ab. »Wir sollten uns schleunigst von der These verabschieden, dass die Lage Ridgecliff zum Handeln zwingt. Das Gegenteil ist der Fall: Ridgecliff kontrolliert die Situation.«
Bullard grunzte missbilligend. »Wie will dieser Typ am Drücker sitzen, wo wir ihm auf der Spur sind?«
»Sie lassen das Obdachlosenlager doch observieren, oder?«
»Ich hielt es für einen Fehler, sich auf Ihre Einschätzung zu verlassen …«
»Und ist er aufgetaucht?«
Bullard errötete und wandte den Blick ab. Cluff spann den Faden weiter. »Sie behaupten also …«
»Wir müssen davon ausgehen, dass Jeremy Ridgecliff sich als wohlhabender Geschäftsmann ausgibt, der in New York zu Besuch ist, weil ihm diese Vorstellung behagt.«
Bullard schüttelte den Kopf. »Mit dem kleinen Unterschied, dass er hin und wieder das Verlangen verspürt, eine Frau aufzuschlitzen?«
»Ja.«
Da stieß Bullard mal wieder an seine eigenen Grenzen. »Mir ist völlig schnuppe, was für ein kluges Bürschchen dieser Ridgecliff ist. Der hat doch nicht alle Tassen im Schrank. Woher nimmt er die Kohle? Wir haben Prowse’ Kontoauszüge gecheckt. In den letzten sechs Monaten wurden keine hohen Beträge abgehoben. Laut Ryder beschafft Ridgecliff sich irgendwo Geld, aber wie er das anstellt, kann er uns nicht verraten.« Er reckte das Kinn, als wollte er mich damit provozieren.
»Sie sind bislang noch niemandem wie Ridgecliff begegnet, Detective«, sagte ich. »Dieser Typ spielt in einer ganz anderen Liga.«
»Ach ja? Und kann er auch wie ein Esel
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