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Bestialisch

Titel: Bestialisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.A. Kerley
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dann unten beim Empfang an.
    »Können Sie mir eine Rolle Papier besorgen? Und falls ja, wie lange dauert das?«
    Cluffs Methode faszinierte mich. Halte alles, was dir durch den Kopf geht, auf einem leeren Blatt Papier fest, notiere Orte und Zeitpunkte, gewichte die Fakten, stelle Bezüge her und entwickle so eine neue Struktur. Trenn die Spreu vom Weizen. Und wenn du in einer Sackgasse landest, kehrst du eben auf Los zurück.
    Ich setzte mich an den Tisch und schrieb Fakten und Vermutungen auf die Rolle, strich durch, fügte hinzu, riss ein Stück Papier ab und begann von vorn.
    Ich notierte, dass Jeremy von der ersten in die dritte Person wechselte, wenn er über die Morde sprach. Ich überflog meinen Vermerk über das Gespräch, das Harry mit Traynor im Institut geführt hatte. Laut seiner Aussage war es Vangie nicht gelungen, Jeremy sein Geheimnis zu entlocken. Sie hatte nicht erfahren, welches Motiv seinen Taten zugrunde lag, was der Auslöser gewesen war. So wie ich sie kannte, hatte sie in ihrer unermüdlichen Art herauszufinden versucht, welcher »Funke das Feuer entfacht«, wie Traynor sich ausgedrückt hatte.
    Ich hielt inne. War das wichtig oder irrelevant? Von all den Patienten, die Vangie im Lauf ihres Lebens anvertraut worden waren, hatte mein Bruder sie bestimmt mehr fasziniert als alle anderen. Und dennoch sah es ganz so aus, als hätte mein Bruder nie gestanden, was ihn zu seinem ersten Mord veranlasst hatte.
    Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie Vangie alles daransetzte, dass Jeremy sich öffnete, wie mein Bruder um den heißen Brei herumredete, sie köderte und ihr Hoffnung machte, sie ganz nah an sich heranließ, ohne jemals sein wahres Ich preiszugeben. Wie sehr hatte sie das irritiert, frustriert und geärgert? Ich ging davon aus, dass Jeremy für sie die ultimative Herausforderung gewesen war, und zwar von der ersten Stunde an.
    Herausforderung.
    Dieses Wort wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wieso nur?
    Ich überflog die Worte und Pfeile auf meiner zwei Meter langen Dokumentation des Grauens. Wo war ich schon mal auf das Wort gestoßen? Da, in den Notizen, die ich mir über Harrys Ermittlungen gemacht hatte. Traynor hatte Harry erzählt, Vangie würde nur einen Privatpatienten annehmen, der sie beruflich herausfordert. Immer samstags, von eins bis drei, hatte sie ihrer Nachbarin zufolge einen Patienten empfangen, doch sie hatte diese Person nie kommen oder gehen gesehen.
    Aber vielleicht war ja gar kein Patient gekommen. Vielleicht hatte Vangie diese Zeit genutzt, um zu arbeiten oder sich auszuruhen.
    Oder …
    War es möglich, dass dieser faszinierende Patient sie gar nicht besuchen konnte? Dass sie sich mit einem Avatar, mit einem Substitut behalf?
    Mit einem Foto an der Tür?
    Vangie war darauf aus gewesen, Jeremys Geheimnis zu lüften und zu erfahren, was ihn antrieb. Hatte sie herausgefunden, welche Begebenheit in seiner Kindheit oder Jugend ihn so sehr beeinflusst hatte, dass er später töten musste?
    Ich las noch mal alle Polizeiberichte durch und tauchte immer tiefer in der Vergangenheit ein, bis ich zu Officer Jim Days Anmerkungen über den Mord an meinem Vater gelangte. Seine klaren, präzisen und aufschlussreichen Ausführungen beendete er mit einer Einschätzung, die weitaus weniger objektiv war:
    »… der ganze Tatort atmete Zorn und Erlösung. Es scheint, als hätte der Täter unter einer schweren geistigen Blockade gelitten, diese überwunden und dementsprechend gehandelt.«
    Schwere geistige Blockade? Anscheinend hatte Day den Subtext der mörderischen Handlungen meines Bruders erkannt. War Day noch mehr aufgefallen? Und falls ja, würde er sich daran erinnern?
    Lebte der Mann überhaupt noch?
    In New York waren mir die Hände gebunden. Hier konnte ich nichts ausrichten. Ich holte mein Handy heraus und rief Harry an. Beim Wählen schweifte mein Blick zum linken Ende der Papierrolle, wo ich die Umstände des Todes meines Vaters festgehalten hatte. Die Details stammten ebenfalls von Officer Jim Day. Sein Name stand da in schwarzer Tinte.
    Day. Er hatte den ersten Bericht über meinen Bruder angefertigt. Den Beginn dokumentiert.
    »Nautilus«, meldete sich mein Partner.
    »Ich möchte, dass du mit jemandem redest, Harry, der vielleicht nicht einfach aufzutreiben ist.«

KAPITEL 31
    Nautilus hielt den Hörer ans Ohr und lauschte, wie die Schreibkraft der County Police in den Akten blätterte. »Hier steht, dass Officer Jim Day drei Jahre, zwei Monate und, ähm, sechs

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