Bestiarium
Martins vierteljährlich erscheinender Immobilien-Informationsschrift Olivier's, die er seinen paar hundert Kunden schickte, das erste Mal seit Generationen der Fall eingetreten, dass ein Olivier es gewagt hatte, von sich etwas drucken zu lassen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Edward war damit nicht einverstanden gewesen. Mehr noch, er hatte mit Entsetzen reagiert. Martin hatte den unmissverständlichen Wink trotz langer Diskussionen ignoriert.
Martin, der nach zweistündiger Fahrt das Tor erreichte - James hatte ihn und seinen Fahrer eine lange Reise machen lassen -, bückte sich zur Sprechanlage hinunter.
»Ich bin's.«
James öffnete das Tor elektrisch vom Haus aus. Das funktionierte noch. James erschien, während das Tor, eine drei Meter hohe Wand aus undurchdringlichem Stahl und uralten Bolzen, aufschwang. Er trug eine Jeans, Gummistiefel und einen Baumwollsweater.
James musterte eindringlich den Fahrer, dann seinen Neffen und sagte nach kurzem Schweigen: »Alles klar. Komm herein, und park den Wagen da drüben.« Er deutete auf ein matschiges Areal.
Martin stieg aus, und Max entfernte sich mit dem Wagen, um ihn auf dem angewiesenen Platz abzustellen. Martin reichte James die Hand.
James umarmte ihn. »Lass dich ansehen. Du meine Güte, du siehst ja richtig erwachsen aus!« Er hatte seinen Neffen seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen.
Martin erwiderte lächelnd das Kompliment.
James konnte den Blick nicht von seinem Neffen lösen. Er sieht genauso aus wie sein Vater, dachte er.
Dann ergriff er Martins Hand und legte eine kleine silberne Medaille auf die Handfläche.
»Dein Vater wollte, dass du dies hier bekommst.«
Martin betrachtete die kleine ovale silberne Scheibe mit der dünnen Silberkette und las die vier eingravierten Buchstaben laut vor: »CSPB. Was bedeutet das?«
»Das ist die Medaille des heiligen Benedikt, Martin. Edward hat sie als Glücksbringer getragen. Sagen wir einfach, der heilige Benedikt hat einen großen Einfluss auf deinen Vater gehabt. Wir haben die Medaille im Wald gefunden. Er hat sie dort an seinem Todestag verloren.«
»Der heilige Benedikt? Aber mein Vater war alles andere als religiös. Das verstehe ich nicht!«
»Das kannst du auch gar nicht verstehen«, sagte James und geleitete ihn und Max ins Haus.
KAPITEL 17
A uf einem verlassenen Fabrikgelände zehn Minuten südlich des Hauptbahnhofs von Dijon trafen drei Männer in unterschiedlichen Fahrzeugen ein und versammelten sich in einem unauffälligen abbruchreifen Lagerhaus, dessen Hintereingang, der sich in einem Labyrinth aus mit Zäunen abgetrennten Sackgassen und herumliegenden Gerümpels befand, nahezu unsichtbar war. Früher hatte in diesem Winkel der Stadt ein Metall verarbeitender Betrieb einige Jahre lang seine Produktion gehabt, gefolgt von einem Friedhof für verschrottete Autos, deren noch brauchbare Einzelteile nach und nach an Interessenten veräußert wurden.
Die halbverweste Leiche eines zwölfjährigen nordafrikanischen Strichjungen war nackt und von Fischen angefressen in einem Seitenkanal anderthalb Kilometer entfernt gefunden worden. Dann hatte irgendwann eine Rohrbombe mitten in der Nacht eine Tankstelle in Flammen aufgehen lassen. Zahlreiche Stimmen plädierten dafür, das Gelände aufzugeben und einzuebnen. Trotz neuer Umweltbestimmungen (ein Bürgermeister von Dijon war zum ersten Umweltminister Frankreichs ernannt worden) war das Gelände mit Unkraut überwuchert und befand sich mit seinen von Rissen durchzogenen Asphaltflächen, verlassenen Schlachthäusern, Stacheldrahtverhauen und Überresten seit Langem leer stehender Fabrikgebäude in einem hoffnungslosen Zustand, da sich die Beseitigung chemischer Abfälle sogar für Investoren, die auf die Entwicklung unerwünschten Landes spezialisiert waren, als zu problematisch erwies, um daran auch nur einen Hauch von Interesse zu bekunden.
Gouge de Bar kam auf einem Motorrad und trug einen Rucksack, in dem sich ein dünner Dokumentenordner mit einer Reihe Fotos und der schlechten Kopie einer Seite aus der öffentlichen Bibliothek befand, die selbst eine Kopie einer Handschrift aus dem Kloster Citeaux war. Sie zeigte eine Landkarte.
Er traf gleichzeitig mit einem seiner Helfershelfer ein.
»Berndt«, begrüßte de Bar ihn. Berndt war mit einem staubigen Volvo Kombiwagen ohne auffällige Merkmale gekommen. Das Fahrzeug trug ein Schweizer Kennzeichen.
Ein drittes Fahrzeug, ein alter französischer Postwagen,
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