Bestiarium
ich jetzt tun? Er geriet leicht in Panik.
Der Vogel kam näher. Du liebe Güte. Martin versuchte törichterweise zurückzuweichen, wobei er vergaß, dass der Vogel auf seinem Arm hockte. Aber wenn man einen Gerfalken auf sich zukommen sieht, ist eigentlich jegliche Logik außer Kraft gesetzt. Der Vogel schritt auf seinem Arm hoch zu seiner Schulter, und sodann verharrte die gewichtige Kreatur dicht vor seinem Gesicht. Sie berührte es mit ihrem großen Schnabel, zuerst pickte sie gegen die linke Wange, dann unter sein rechtes Auge. Martin wagte nicht, sich zu rühren.
O mein Gott! Der Vogel hatte die totale Kontrolle über ihn und konnte mit ihm tun, was immer er wollte.
Dann sprang er von der Schulter herunter, landete auf der Wiese und kletterte sofort an seinem Bein hoch. Die Klauen bohrten sich in seine Wade, dann in seinen Oberschenkel, als er sich seinem Schoß näherte.
Martin wich zurück, schüttelte sich. Aber der Vogel ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen.
Und dann erkannte Martin, auf was der Falke es abgesehen hatte - auf die Reste eines Schokocroissants, das eingewickelt in ein Stück Zeitungspapier in seiner Hosentasche steckte. Er griff hinunter, holte das kleine Päckchen aus der Tasche, und ehe er es hochwerfen konnte, hatte der Vogel es schon im Schnabel. Er hüpfte zurück auf den Boden und schickte sich an, nur die Schokolade aufzupicken. Das Gebäck an sich interessierte ihn nicht.
Er verlangte mit einem lauten Schrei nach mehr und kehrte mit wenigen Flügelschlägen auf Martins Schulter zurück. Nichts von alledem gehörte zum geplanten Ablauf.
Absolut nichts, vor allem nicht, dass er ihm sein lockiges, schwarzes und schütter werdendes Haar putzte, in dem offenbar während seines Marsches durch den Wald einige Zweige und zwei Zecken hängen geblieben waren. Voller behutsamer Sorgfalt befreite der Raubvogel ihn von allem Biomüll.
Wieder auf der Hand mit dem Schutzhandschuh hockend, blickte der Falke ihm mit einer Eindringlichkeit in die Augen, die Martin noch nie in seinem ganzen Leben gesehen hatte, dann wandte der Vogel den Kopf und schaute zum Himmel. Martin verstand das als Zeichen. Er schleuderte den Falken in die Höhe, und der breitete die Schwingen aus, schwang sich in die Luft, segelte über den Wald hinweg und war kurz darauf nicht mehr zu sehen.
Martin seufzte tief auf, ließ sich zwischen Hahnenfuß und Studentenblumen auf die Wiese sinken und faltete das Papier auseinander. Darauf waren eine ganze Reihe geheimnisvoll klingender Anweisungen notiert. Doch diesmal führten sie zu einem Haus.
Dann tat Martin etwas, das ihm strengstens verboten worden war. Er rief Margaret an und nannte ihr den Namen des nächsten Dorfs und einige landschaftliche Orientierungspunkte und erklärte ihr genau, wo er in weniger als fünf Stunden sein würde - vorausgesetzt, er verirrte sich nicht und der Wasserspiegel des Flusses war nicht gestiegen und er würde die Stelle wiederfinden, an der er den Fluss überqueren konnte, und er fände Max und den Wagen.
»James hat umfangreiche Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um diese ganze Angelegenheit geheim zu halten. Der Ort ist völlig abgelegen und versteckt«, sagte er.
»Dein Vater wurde ermordet. Und James weiß nicht, wer es getan hat. Oder vielleicht weiß er es auch und fürchtet sich, es zu offenbaren«, mutmaßte Margaret.
»Es ist wohl mehr als das. Es ist der Ort selbst, den zu verraten er eine geradezu paranoide Angst hat. Und ich habe keine Ahnung, weshalb.«
»Vielleicht wurde dein Vater dort getötet. Wenn ja, dann würde das Château zu einem Tatort und von Polizei überschwemmt. Die Privatsphäre würde brutal gestört, und du weißt ja selbst, wie empfindlich deine Familie ist.«
»Trotzdem sollte man doch annehmen, dass er daran interessiert ist, dass der Mord an seinem einzigen Bruder aufgeklärt wird.«
»Sicher. Das sollte man annehmen, aber er hat ein halbes Jahr gewartet. Das macht deinen Onkel ganz klar zu einem Tatverdächtigen. Tatsächlich hat er längst eine ganze Reihe von Gesetzen gebrochen, darauf kannst du dich verlassen. Und du wirst genauso unter Verdacht geraten, wenn du all das nicht den zuständigen Behörden meldest.«
»Nicht bevor wir nicht herausgefunden haben, was wirklich geschehen ist. Ich rufe dich heute Abend an. In der Zwischenzeit bitte ich dich, in Erfahrung zu bringen, wo zum Teufel dieser Ort ist. Du kennst die Region und ich nicht. Mein iPhone ist auf stumm geschaltet, also schick
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