Bestiarium
von der Droge gelähmt, und seine mächtigen Gliedmaßen waren auf eine Art und Weise gefesselt, die ein Austreten völlig unmöglich machte. Noch wichtiger war, dass das Tier überhaupt nicht ahnte, was es erwartete. Man konnte es Unschuld nennen. Es war völlig ruhig, empfand keinerlei Angst vorm Fliegen. Aber die Wirkung der Droge war bei einem solchen Tier gänzlich unbekannt, da sein Organismus niemals eingehend untersucht worden war, ja dessen Existenz nirgendwo anders bestätigt wurde als in mythischen Darstellungen in Verbindung mit Jungfrauen und religiösen Allegorien.
Abdul hingegen zweifelte nicht an seiner Existenz. Er war im vulgären Luxus eines fast viertausend Quadratmeter großen Familiensitzes aufgewachsen, dessen Innenhof gefüllt war mit reihenweise aufgestellten Käfigen voller lebendiger Jagdtrophäen. Die Zucht und die Kreuzung seltener Tierarten mitten in Dubai war die Grundlage des beträchtlichen Vermögens seines Vaters gewesen. Dazu gehörte auch eine Arabische Oryx, deren letztes bekanntes Exemplar Ende der 1960er Jahre mithilfe eines Helikopters, eines Netzes und eines Dutzends gewissenloser Gauner, die mit ihren Landrovers durch die Dünen des Rub' al Khali, des saudi-arabischen Niemandslandes, rasten, eingefangen worden war. Die Oryx war mit anderen gleichartigen Wüstenbewohnern aufgezogen worden, und Abduls Familie besaß jetzt die einzige Zuchtstation für diese offiziell als ausgestorben geltende Antilopenart am Persischen Golf.
Sie hatten das eine Tier geschnappt - dank einer brillanten Intuition, sorgfältiger Planung und sprichwörtlichen Glücks. Aber ein einzelnes Tier war nur eine Hälfte der Geschichte, ohne seinen Partner nur ein nutzloser Anachronismus. Wer hatte Schuld am Verlust des Weibchens? Das war die Frage, die Berndt keine Ruhe ließ, der vermutete, dass Raoul insgeheim noch andere Absichten verfolgte. Berndt war in jener Nacht nicht dabei gewesen, aber der Ablauf der Ereignisse, so wie Raoul und de Bar sie schilderten, legte den Verdacht nahe, dass irgendetwas fehlgeschlagen war oder nicht ganz ins Bild passte. Raoul schrieb es dem unerwarteten Auftauchen eines erfahrenen Jägers zu, der mit Pfeil und Bogen bewaffnet über das Landgut streifte und, so unglaublich es auch erschien, mit den Tieren auf geradezu intime Art kommunizierte. Er war wohl so etwas wie ein Jagdhüter, der sich zwischen die Hyänen und Bisons wagte, ihren Herdentrieb lenken und sich völlig frei und unbehelligt zwischen den großen Raubtieren bewegen konnte.
So lautete Raouls Erklärung.
»Die haben da drin einen afrikanischen Fährtenleser. Darauf würde ich mein Leben verwetten«, sagte de Bar.
Sie hatten die männliche Trophäe weggeschleppt und in den Laster geladen. Sie waren zurückgekehrt, um das Weibchen zu fangen, als Jimmy getötet wurde. Da ringsum die Tierwelt in Aufruhr war und ein geschickter Jäger nach Rache dürstete, hatten sie wenig Lust, ihren Raubzug fortzusetzen. Sie hatten einen der Verteidiger verletzt, wahrscheinlich sogar getötet. Sie wussten auch, dass dieses Landgut genauer unter die Lupe genommen werden musste. Doch einstweilen konnten sie nichts anderes tun, als Jimmy in den Kofferraum zu legen und das Fahrzeug ein paar hundert Meter abseits der Straße verschwinden zu lassen, indem sie den Motor anließen und das Gaspedal mit dem abgebrochenen Ast einer Eiche festklemmten. Sie verfolgten, wie der Saab teilweise versank und dann von den schwellenden, trägen Kräften des gewundenen Flusses erfasst und mitgerissen wurde. Es war ein dunkler Wirbel von Strömungen, eine Art wandernder Treibsand, welcher das Fahrzeug zu einem unbekannten Ziel inmitten eines Labyrinths von Marschen und Kanälen mitnahm.
Nun jedoch, als er das Szenario vor seinem geistigen Auge Revue passieren ließ, wünschte Gouge de Bar sich, er wäre nicht in Panik geraten. Obgleich Büffel, speziell wilde Wasserbüffel, zu den gefährlichsten aller Tierarten gehörten, sicherlich genauso gefährlich wie Mambas, wusste er, wie man sie aufhalten konnte. Nämlich mit einem Maschinengewehr.
»Wir haben jetzt die Landkarte, ausreichendes Fotomaterial und GPS-Koordinaten sowie Netze, die stark genug sind, alles zu bändigen. Und wir wissen, dass das Weibchen da drin ist.«
Ein Hustenanfall schüttelte den gut vierzig Jahre alten Athleten durch. De Bar schluckte einen Schleimbrocken hinunter, während er den Rucksack auf den Tisch stellte und die Plastikordner herausholte.
»Bist du krank?«,
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