Bestiarium
parkte bereits neben dem Gebäude.
Berndt ging als Erster hinein.
Ein hochgewachsener Mann namens Raoul Fougeret saß an einem Tisch aus mit Astlöchern durchsetztem Kiefernholz und inspizierte ein Gewehr. Hinter ihm standen mehrere große Stahlbehälter. Sie waren innen mit Holzbrettern ausgeschlagen, zurückgelassen worden und mit verstaubtem Metall-, Gummi- und Porzellanabfall gefüllt, den abzuholen in fünfzig Jahren sich niemand die Mühe gemacht hatte.
Raoul betrachtete de Bar abschätzig durch das Visier. Ein winziger Laserlichtpunkt wanderte über seine Wange.
De Bar blieb stehen und sah ihn mit einem unbeeindruckten, leicht irren Grinsen an. Sie waren enge Freunde.
»Leg das Ding hin«, sagte Berndt zornig.
Raoul senkte die Waffe lässig. »Du bist spät dran.«
»Und du bist ein Vollidiot«, sagte Berndt.
»Ich habe den Zeugen zum Schweigen gebracht.«
»Du hast die ganze Operation gefährdet.«
»Das ist totaler Quatsch.«
»Das Ziel ist entkommen. Der Rest war persönlich. Jetzt wissen sie Bescheid. Jeder weiß Bescheid.«
»Ich habe sechs ehemalige Kumpel zusammengetrommelt. Sie sind alle auf ihrem Posten und bereit, reinzugehen.«
»Wie viel wissen sie?«, fragte Berndt.
»Wilde Tiere. Das ist alles, was sie wissen müssen. Sie machen diese Arbeit schon seit Jahren, und das unter weitaus härteren Bedingungen. Afrika. Mittlerer Osten. Kolumbien. Ich kenne sie.«
Raoul kochte. Berndt, der langsam um ihn herumging, konnte ihn beim besten Willen nicht verstehen. Ja, es war persönlich. Aber es reichte auch Jahrhunderte weit zurück.
Berndt wusste, dass er diese beiden plumpen Helfer brauchte, de Bar und Raoul. Letzterer glaubte ernsthaft, er stamme von burgundischen Rittern ab, die einst den König verteidigt hatten, ehe sie in Ungnade gefallen waren.
Tatsächlich stellte Raoul die direkte Verbindung zu Abduls Familie dar, und zwar durch Heirat vor vielen Generationen, und zu dem ständig fließenden Strom von Euros. Er und de Bar hatten im Persischen Golf zusammengearbeitet und Dugongs geschmuggelt. In England hatten sie Exemplare seltener Schafsrassen gestohlen. In Brasilien waren es ein Spix-Ara sowie eine seltene Albino-Buschmeister - eine der giftigsten Schlangen des westlichen Amazonasgebiets -, die für einen Sammler auf den Kanarischen Inseln bestimmt waren.
Nach Jimmys Tod vor einem halben Jahr hatten de Bar und Raoul es nicht geschafft, ihre Spuren auch nur halbwegs so sorgfältig zu verwischen, wie sie es eigentlich hätten tun sollen, und das wussten sie. Sie hatten Jimmys Leiche zurückgelassen, zerfleischt von einem Tier, das sie zuerst für einen Kaffernbüffel gehalten hatten, der mit vierzig Meilen in der Stunde aus dem Wald gestürmt und gegen das Heck von Jimmys Saab gekracht war. De Bar hatte das Tier nicht kommen sehen. Weder er noch Jimmy waren darauf vorbereitet. Dabei hätten sie es sein müssen nach elf Jahren, die sie sich auf Großwildjagdfarmen in Angola, Mosambik und Südafrika herumtrieben. Aber ein Kaffernbüffel, dessen Hörner eine Spannweite von zweieinhalb bis drei Meter hatten, war ihnen in dieser Nacht nicht in den Sinn gekommen. Und wenn er das Ganze noch einmal Revue passieren ließ, war de Bar sich ziemlich sicher, dass das Tier keiner bekannten Büffelart angehört hatte.
Nach dieser Nacht hatte de Bar per Internet in Bibliotheken in Paris und London herumgestöbert. Nachdem er verschiedene Beschreibungen gelesen und ein Bild von einer Rekonstruktion gesehen hatte, war er sich ziemlich sicher, was es war.
»Ein Latifrons«, entschied er. »Ein Bison latifrons, angeblich vor zehn- bis fünfzehntausend Jahren ausgestorben.«
Eine Vermutung von derartiger Bedeutung überraschte Raoul nicht im Mindesten. So wusste er, dass eine ähnliche Kreatur, der Wisent, in mehreren europäischen Zoos und Zuchtreservaten überlebt hatte. Mehr als 3 500 Exemplare dieser Art lebten zurzeit im Bialowieza Nationalpark wie auch in Gegenden in Weißrussland, Litauen, der Slowakei und in Russland. Hinzu kam, dass dieses spezielle Areal, wo sie dem Büffel begegnet waren, seinen eigenen Mikrokosmos besaß, über den sich Raoul jedoch vollkommen bedeckt hielt, sogar gegenüber seinen Mitverschwörern.
Raoul hatte dafür seine eigenen Gründe und hatte nicht gezögert, jeden zu töten, der ihm im Weg war. Er sah keine Notwendigkeit, diese Information seinem gelegentlichen Partner Berndt zukommen zu lassen, dessen Launen unvorhersehbar waren, der aber, was noch wichtiger
Weitere Kostenlose Bücher