Bestiarium
altertümlicher Arbeitsbereich.
»Dies war mal das klösterliche Refektorium. Darunter befindet sich die Küche. Diese Treppe war für acht- oder neunhundert Jahre versperrt. Überall Falltüren und ein Tunnel, der viele Meilen von hier wegführt. Früher wurde er von Dienern benutzt. Jetzt haben wir da oben riesige Wespennester. Normalerweise muss man die örtliche Feuerwehr rufen, damit sie herkommt und sie entfernt. Natürlich wäre dies das Letzte, was wir tun würden.«
James bemerkte, dass Martin plötzlich stehen blieb. Er konnte das schwache, aber durchdringende Summen von oben hören.
»Keine Sorge«, sagte James. »Es ist eine Triassic hymenopteran, groß genug, um einen ausgewachsenen Hund anzugreifen, aber in Wirklichkeit ganz friedlich. Eine Wespenart, nun, eigentlich keine richtige Wespe, sondern eher eine Furcht einflößende Libelle, die vor einiger Zeit überall in Europa ausgestorben ist. Aber ich kann mich für sie verbürgen. Ich wurde noch nie gestochen.«
»... Keine Sorge ...«, murmelte Martin halblaut.
Sie setzten ihren Weg durch die Korridore aus Naturstein und Holz und unzähligen Abzweigungen fort, kleine Räume, die in nutzlosen Sackgassen endeten. Im Schloss eine Toilette zu suchen wäre sicherlich eine abendfüllende Beschäftigung.
»Wie geht es eigentlich deiner Firma?«, wollte James wissen, als sie eine alte gewundene Holztreppe fanden - Eichenholz, das bei jedem Schritt heftig knarrte —, die höher und höher führte.
»Hm, bestens.« Martin war bereits außer Atem. »Wir haben im vergangenen Jahr einen Umsatz von über achthundert Millionen geschafft.«
»Warte einen Moment.« James hob die Taschenlampe und richtete den Lichtstrahl auf eine Reihe von Porträts. »Da sind sie ja.«
Martin reagierte verärgert. »Machst du Witze?«
»Nichts, um in Begeisterungsstürme auszubrechen, jedenfalls nicht diese. Ziemlich schlechte Gemälde. Und die nicht vorhandene Kontrolle von Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit gibt ihnen wahrscheinlich den Rest. Und sie sind nicht alle miteinander verwandt oder mit den Oliviers, obgleich ... eins ist es doch.«
»Ich gebe auf. Wer sind sie?«
James nannte die Namen, während sie an ihnen vorbeigingen. »Das ist König Ludwig der Große von Ungarn, und dort sind zwei aufeinanderfolgende Könige von Spanien. Der dort ist Philip der Gute, Herzog von Burgund, da drüben sind Johanna die Erste und Karl der Fünfte, und das dort ist Maximilian von Habsburg.«
»Und die Frau oder das Mädchen dort? Wer war sie?«, fragte Martin und betrachtete das Gemälde von einer prächtigen, gekrönten Königin, die inmitten einer wuchernden Wildnis auf einem weißen Hengst saß.
»Das ist Maria von Burgund«, antwortete James. »Und rate mal, was sie alle gemeinsam hatten.«
»Geld?«
»Ja, das ganz gewiss. Aber sie waren alle Mitglieder des Ordens vom Goldenen Vlies. Und die Liste geht weiter und weiter. Was man wissen muss, ist, dass um 1430 eine päpstliche Bulle, bekannt unter dem Namen Praeclarae devotionis sinceritas, dies hier zu einem streng katholischen Orden machte und eine Reihe von bedeutenden Feinden auf den Plan rief. In der Vergangenheit haben sie es nicht geschafft, unsere Verteidigung zu überwinden. Wir hatten großartige Ritter ...«
»Wir?«, fragte Martin.
»Ja, deine Familie, die auf einen illegitimen Nachkommen aus einer der sieben Beziehungen von Maria von Burgund zurückgeht. Nicht schlecht für eine junge Frau, die im zarten Alter von fünfundzwanzig Jahren starb.«
»Du meinst die hier?«
»Ja.«
»Wie ist sie gestorben?«
»In historischen Aufzeichnungen heißt es, sie sei vom Pferd gefallen. Aber da haben wir unsere Zweifel.«
»Ach nein.«
»Eher wurde sie wohl ermordet. Nach ihrem Tod versuchte jemand, in Nordeuropa einen umfangreichen Machtwechsel herbeizuführen, der vielleicht den Untergang dieses Gutes zur Folge gehabt hätte. Aber dazu kam es nicht, und ich erzähle dir auch, weshalb.«
KAPITEL 25
D ie Bergung des Saab-Kombiwagens mit holländischen Nummernschildern war noch im Gange, als Jean-Baptiste Simon und Hubert Mans gegen zwei Uhr morgens am Ort des Geschehens eintrafen. Ein Helikopter kreiste über dem winzigen Inselchen aus Schlamm und einigen Linden in der Mitte der Strömung, wo das Fahrzeug dank eines dicken Asts, der sich durch ein zerschmettertes Seitenfenster gebohrt hatte, festhing. Der Hubschrauber richtete seine Scheinwerfer auf das Wrack, das von weiteren Scheinwerfern am Ufer
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