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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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Wo ist Vater?«
    »Im Melkstall. Ist alles in Ordnung?«
    »Ja. Entschuldige, dass ich so früh anrufe. Erinnerst du dich an die Geschichte, die Großvater immer von dem Kloster erzählt hat, in dem er das Malen erlernt hat?«
    »Natürlich. Eine Zisterzienserabtei mit weitläufigem Landbesitz. Aber er konnte nicht malen, auch wenn sein Leben davon abgehangen hätte. Deshalb hat er mit der Landwirtschaft angefangen.«
    »Aber wo war dieses Kloster?«
    »So genau habe ich das nie verstanden. Irgendwo in Richtung Prémery, südlich von Tannay. Aber warum willst du das wissen?«
    »Eine reine Routineangelegenheit. Befindet ihr euch außerhalb der Quarantänezone?«
    »Im Augenblick noch. Aber es ist furchtbar. Dein Vater kann keinen Stress vertragen, wie du weißt. Sein Magengeschwür meldet sich wieder.«
    »Haltet euch bloß von den Märkten fern. Ich muss hier weitermachen. Bestell Vater meine Grüße.«
    »Einen Moment noch, ich dachte, du wolltest mit Sylvie und dem Baby nach Griechenland?«
    »Da war ich auch.«
    Dann rief Simon Pater Bruno an.
    »Pater, es tut mir aufrichtig leid. Ich bin's noch mal, Jean Simon. Was können Sie mir über das Zisterzienserkloster nordöstlich von Château-Chinon erzählen? In der Nähe des Naturparks?«
    Bruno hatte halbwegs mit dieser Frage gerechnet. Er war die ganze Nacht wach geblieben, teils wegen dieses beharrlichen Polizeiinspektors, aber auch weil er selbst intensiv nachgedacht hatte. Und die Welten prallten gefährlich aufeinander, vor allem die jener Mönche, die dieser Polizist aus dem verführerischen Nebel des Mittelalters hervorholte. Die Antwort auf seine Fragen verbarg sich in einem der bizarrsten und trügerischsten Rätsel, die er in seinem Leben als Geistlicher kennengelernt hatte.
    »Das kenne ich«, erwiderte er und lieferte Jean-Baptiste Simon die genaue Wegbeschreibung, die die moderne Technik in Antwerpen nicht hatte liefern können. Simon schickte Mans einen seltsamen Blick, während er sich mit der rechten Hand einige Notizen machte. Dieser belgische Prälat schien mit den wichtigen geografischen Details verblüffend gut vertraut zu sein.
    »Es ist seit fast tausend Jahren kein Kloster mehr.«
    »Was ist geschehen?«
    »Die frühen Königsgeschlechter in Burgund haben es in Besitz genommen.«
    »Und heute?«
    »Heute? Nun, ich glaube, da sind nur noch Wald und Ruinen. Ich kenne niemanden, der jemals dort war. Wenn ich daran denke ...« Pater Bruno hatte daran gedacht, und zwar in dem Moment, als er erfuhr, dass Wildtiere und die Benediktiner in irgendeiner Weise in den Mord in den Docks verwickelt waren.
    Simon spürte eine Zögerlichkeit bei Bruno, die ihm bei ihren vorherigen Begegnungen nicht aufgefallen war.
    »Wie groß war das Kloster?«
    »Es war nicht das Kloster selbst, sondern es war seine Umgebung.«
    »Was ist damit? Weitläufig genug, sodass Wildtiere dort herumstreifen können?«
    »Laut der Legende ja.«
    Bruno hatte Bedenken gehabt, über das zu sprechen, was ihm seit vielen Stunden im Kopf herumging und ihn schon seit mehreren Jahren immer wieder einmal beschäftigte. Er las regelmäßig die Zeitungen und verfolgte aufmerksam alle wissenschaftlichen Hiobsbotschaften. Er war kein gewöhnliches Mitglied der Kirche.
    »Nehmen Sie sich in Acht«, sagte er schließlich, und es klang fast wie ein Befehl.
    »Wovor?«
    »Haben Sie jemals etwas von John Donne gelesen?«
    »Meinen Sie den englischen Dichter, der gesagt hat: ›Kein Mensch ist eine Insel‹?«
    »Und der auch geschrieben hat: ›Serpens fixa cruci si sit natura, crucique a fixo nobis gratia tota fluat.‹«
    »Sie schon wieder mit Ihrem Latein.«
    »Nein, es stammt von Donne. Er schrieb seinem Freund, dem religiösen Dichter George Herbert, auf Lateinisch.«
    »Und was heißt das?«
    »›Kreuzige die Natur, und dann erbitte alle Gnade von Ihm, der vorher dort gekreuzigt wurde.‹«
    »Ist das Ihre Übersetzung?«
    »Nein, sie stammt von James Russell Lowell. Meine ist ein wenig einfacher, und wenn ich Ihnen erklärte, sie betreffe das Ende der Welt, würden Sie mir glauben?«
    »Schon möglich.« Simon war es leid, sich mit Ungewissheiten und dem verdammten Regen und Nebel, mit Leichen, Rätseln und ungenauen Satellitenmessungen herumzuschlagen. Aber Bruno war kein Dummkopf, und die Verbindung mit der Natur und folglich auch der wilden Tierwelt hatte eine ganz spezielle metaphorische Bedeutung für den Stellvertretenden Direktor des IWS. »Und wie endete das Gedicht? Aber bitte

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