Bestiarium
der Welt starben aus, weil ihre Lebensräume sich viel schneller veränderten, als sie ihren Organismus den neuen Verhältnissen - genießbaren Pflanzen und Insekten - anpassen konnten. Von Sibirien bis zu der Region, die wir heute als Irland kennen, verschwanden große wie kleine Lebewesen. Und ein paar Menschentypen gleich mit. Es gab auch Hyperseuchen, die bewirkten, dass die Arten, die ursprünglich überlebten, ebenfalls dahingerafft wurden. Nicht alle verschwanden, jedoch die meisten. Und dann machten der Homo erectus, der Neandertaler und der Cromagnonmensch, sie alle erfolgreiche Jäger, das Chaos perfekt und brachten eine große Anzahl noch lebender großer Säugetiere zur Strecke. Es gibt Höhlen, sogar in Burgund, die mit urzeitlichen Artefakten gefüllt sind. Die Kadaver von Hunderten Pferden, die nur fünfundvierzig Kilometer von hier in die Enge getrieben, von den Klippen gestürzt und dann verzehrt wurden.«
»James, was soll das alles? Ich muss gestehen, dass ich müde und erschöpft bin.«
James wechselte einen melancholischen Blick mit Edouard. Beide Männer hatten offenbar keine andere Wahl, als sich auf diesen ein wenig begriffsstutzigen Zuhörer einzustellen.
»Na schön, der Punkt ist, dass der Druck auf die Tierwelt während der letzten paar tausend Jahre zunahm. Dir ist sicherlich bewusst, dass die Menschen das Artensterben um das Zehntausendfache dessen beschleunigt haben, das allgemein als natürliche Aussterbensrate angesetzt wird. Dein Vater hatte sein Leben dem Studium dieser Vorgänge und dem Bemühen gewidmet, sie zu verstehen.«
»Um ganz ehrlich zu sein, davon hatte ich keine Ahnung. Ich weiß, dass wir ein großes Problem haben. Aber ich habe mich niemals für Zahlen interessiert, es sei denn, sie standen vor einem Dollarzeichen.«
»Oh, das tun sie, mein Junge. Und wie sie das tun. Diese fünfunddreißigtausend Hektar sind alles, was aus der Zeit vor den Gletschern noch übrig ist.«
Martin setzte zu einer Erwiderung an, doch dann hielt er inne. Vielleicht war es wegen des verschwörerischen Augenzwinkerns, als ob sie ihm irgendetwas in einen der vielen Drinks getan hatten, die er während der letzten Stunden konsumiert hatte. Er fühlte sich benommen, und der ganze Raum schien leicht zu schwanken. Und die Unterhaltung zerfaserte irgendwie ... Irische Elche, Säbelzahntiger ...
»... großer Alk, Labradorente«, fügte Edouard hinzu, »und Wandertaube, Okapi und Auerochse, Bullockornis und Einhörner ...«
»Tatsächlich«, fuhr James fort, »wurde, als die Belastung der Natur während des 18. und 19. Jahrhunderts überall auf der Welt, von Madagaskar bis nach Peru, von Neuseeland bis nach Indien, zunahm, diese klösterliche Anlage, von jenen verehrt, denen das Geheimnis anvertraut worden war, und beschützt von den Rittern vom Orden des Goldenen Vlieses, zum letzten Refugium auf der Erde.«
»Groß genug«, sagte Edouard, »wild genug und seit undenklichen Zeiten beständig genug, um dieses Übermaß an lebensnotwendigem Bedarf zu befriedigen. Tiere, Insekten, Blumen, deren Bestand gefährdet war - alle fanden hier Zuflucht. Es gibt keine in Europa einheimischen Vögel, Madeira nicht mitgezählt. Aber hier, auf diesem biologisch sich selbst überlassenen Anwesen, nun, da sieht es völlig anders aus.«
»Weiß der Vatikan eigentlich von diesem Ort?«, fragte Martin sich laut, außer sich über die Bedeutung dessen, was er hier erfuhr.
»Es gab mal einen Papst, der hier zu Besuch war«, begann James. »Vor gut fünfhundert Jahren. Während des Mittagessens jagte ihm ein Nilpferd einen Schrecken ein. Es wollte eigentlich nur ein wenig spielen, wie Nilpferde es an sich sehr gerne tun. Er exkommunizierte das Nilpferd und setzte zur Sicherheit die anderen Wildtiere gleich mit auf den päpstlichen Index. Niemand hat davon etwas mitbekommen. Wir sind hier eine ketzerische Einrichtung, die zu ignorieren dem Vatikan leichtfällt. Allerdings sollte ich hinzufügen, dass im 19. Jahrhundert ein Papst den Katholiken verbot, Tiere zu schützen. Die Begründung war, dass Menschen die höheren Wesen seien und ihre Zeit nicht damit vergeuden sollten, geringeren Wesen das Leben angenehm zu machen, weil die offizielle päpstliche Doktrin besagt, dass alle anderen Tiere, außer den Menschen, keine Seele haben. Sie dürfen nicht gerettet werden.«
»Aber das ist doch völlig verrückt.«
Edouard ergriff das Wort. »Erst vor Kurzem hat die griechisch-orthodoxe Kirche das durch Menschen
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