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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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wegen nichts anderem als den nächsten vierundzwanzig Stunden Sorgen zu machen. Und falls wirklich etwas schiefgehen sollte, würde er, wenn alles zusammenbrach, den wahren Preis in der Tasche und das Land mit einer gesicherten Zukunft vor Augen längst verlassen haben.

 
    KAPITEL 34
     
    D ie Wassermassen prasselten weiterhin auf das Château herab. Bleierne Regenspeier und Dachrinnen liefen über, und in der Luft lag der Geruch von Tannin und Schwefel. Gelegentlicher Donner erklang, und Blitze zuckten vom Himmel. Zwischen den Bäumen des Waldes heulte der Wind.
    Martin saß mit James und Edouard Revere in der Bibliothek. Max war in sein Zimmer hinaufgegangen, um sich für die Fahrt nach Genf fertig zu machen.
    Lance war, wie James erklärte, in den Turm hinübergegangen, um dort »wegen des heftigen Regens und des undichten Dachs nach dem Rechten zu sehen«.
    »Wann hattest du vor, es ihm zu erzählen?«, fragte Edouard schließlich und unterbrach damit ein unbehagliches Schweigen, das sich auf die drei herabgesenkt hatte.
    »Du hast recht. Es ist an der Zeit.«
    Martin sah ihn gespannt an.
    James wurde plötzlich von einem Ansturm lange unterdrückter Gefühle überwältigt.
    »Wäre es dir lieber, wenn ich es ihm sage?«, fragte Edouard.
    »Es geht schon wieder.« James trank einen kräftigen Schluck von seinem Whiskey und atmete tief durch.
    »Dann hör gut zu, Junge. Diese rund fünfunddreißigtausend Hektar Land sind nicht nur ein gewöhnlicher Wald.«
    »James, das haben wir doch schon längst geklärt.«
    Hoch oben, wo Dachsparren und Schieferplatten die Außenwelt abhielten und Regenwasser sich in langen Rinnen kunstvoll behauenen Steins sammelte, verrieten ferne schrille Schreie Lance, der unter dem Dach stand, dass dort draußen, inmitten seines Netzes aus versteckt an Bäumen befestigten Mikrofonen, ein offenbar eindeutig identifizierter Schrecken lauerte. Der Turm ragte hoch über der Landschaft auf und diente als Sichtlinien-Transmitter. An seiner massiven Kalksteinmauer schlängelte sich ein erst in jüngster Zeit installierter Leitungsdraht empor, der die akustischen Lebensäußerungen von Greifvögeln und das Gebrüll anderer aufgeregter Wildtiere übermittelte.
    Zudem hatte Lance, um spezifische Laute von dem weißen Rauschen unterscheiden zu können, ein Computer-Übersetzungssystem installiert, das er gegen Ende seines Studiums an der Fachhochschule entwickelt hatte. Die Koordinaten auf dem kleinen Monitor füllten sich mit auf- und abklingenden Zeichen. Sie glichen einer phosphorgrün leuchtenden Ansammlung von Pilzen, die in Höhe und Ausdehnung auf jeden aufgefangenen Laut reagierten. Ein aufgescheuchter Vogelschwarm, eine Herde von einem Eindringling aufgeschreckter flüchtender Gemsen, Heulaffen, die sich von Baumwipfel zu Baumwipfel schwangen, um ihre Jungen zu beschützen. Vor einem Hintergrundrauschen von Windböen, die gegen Bäume anstürmten, die sich nach jahrhundertelangem Kampf gegen die Naturgewalten nicht unterkriegen ließen, und einer dichten Folge von Donner-und-Blitz-Serien am Himmel identifizierte Lance einen nach Hilfe rufenden Chorgesang der Ängstlichen und Schutzlosen in den Wäldern zu Füßen des Turms, der heftigen Zorn in ihm entfachte.
    »Du hast sicher schon mal vom Garten Eden gehört«, begann James.
    »Natürlich, und?«
    »Ich meine, was verstehst du unter dem Garten Eden?«
    »James, wir haben fast fünf Uhr morgens. Überspring die philosophischen Überlegungen und komm zum Wesentlichen.«
    Edouard Revere warf James einen viel sagenden Blick zu. James nickte.
    »Martin, was ich dir klarzumachen versuche, ist, nun, dass dies der Garten Eden ist. Er ist das Geheimnis, das die Oliviers seit Generationen, seit Jahrhunderten hüten. Allerdings ein Geheimnis, das vor uns schon zig, ja Hunderte von Milliarden Jahren existierte. Es sei denn, du nimmst das, was in der Bibel steht, wörtlich, denn dann sind es nur ein paar tausend Jahre. Die Propheten waren nämlich Dichter und keine Wissenschaftler. Und sie nahmen sich einige Freiheiten in Bezug auf chronologische Abläufe, was die Ursache dafür ist, dass es so viele unterschiedliche Kalender, so viele astronomische Offenbarungen, Symbole gibt, sogar hinsichtlich der Lebensdaten von Homer, Moses und Jesus Christus. Noch vor zehn- bis fünfzehntausend Jahren war Europa mit Gletschern bedeckt, was auch für Nordamerika galt. Das Eis zog sich dann zurück, und Ökosysteme veränderten sich. Zahllose Arten überall auf

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