Bestiarium
Aber Mönche sind nicht die richtige Adresse, um Bücher zu verstecken. Sie lesen zu viel. Ganz gleich, welche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen wurden, um die Unantastbarkeit der Gästeliste und der Handschrift zu gewährleisten, kam man überein, dass das Buch in einem Palast sicherer aufgehoben wäre, wo es nicht auffallen und durch ein oder zwei solide Schlösser geschützt würde. Es stellte sich heraus, dass diese Vermutung richtig war. Cluny wurde gegen Ende der Revolution zerstört, wie du sicher weißt.«
»Offen gesagt hatte ich davon keine Ahnung. Aber weiter, was hat es mit diesem Palast in Brügge auf sich, von dem du gesprochen hast?«
»Ja. Nun, seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist dieser Palast ein Museum. Es gehört zu den touristischen Attraktionen.«
»Und du hast mit den Oliviers, die dort leben und in deren Besitz sich das Buch befindet, in Verbindung gestanden?«
»Nein.«
»Okay. Aber leben dort irgendwelche Oliviers? Und bist du sicher, dass sie bereit sind, uns dieses unbezahlbare Buch zurückzugeben?«
»Nein. Und es gibt keine weiteren Oliviers. Und ich habe keine Ahnung, wie wir vorgehen sollen.«
»Das wird ja immer besser.«
Martin ließ sich wieder auf die Couch sinken.
»Dann sag mir, dass du wenigstens weißt, wo in diesem Palast, der heute ein Museum ist, das Buch versteckt sein könnte.«
James konnte nicht einmal mit dieser Information aufwarten, was Martin noch mehr Wind aus den längst schlaff herumflatternden Segeln nahm.
»Dein Urgroßvater deutete an, dass es wahrscheinlich vor etwa zweihundertzwanzig Jahren in einem Tresor im Stadtpalast der Herren von Gruuthuse deponiert wurde. Ich wette, dass es noch immer dort liegt.«
»Du sagtest: wahrscheinlich.« Und er wiederholte es fast ärgerlich. »Wahrscheinlich? Du meinst, du weißt noch nicht einmal mit letzter Sicherheit, dass es sich überhaupt in dem Museum befindet??«
»Es besteht eine vage Möglichkeit, dass es gestohlen wurde, ehe es unbemerkt ins Gruuthuse gebracht werden konnte. Aber wie soll ich das wissen? Es gab dafür niemals eine schriftliche Bestätigung, wenn du das meinst. Du kannst davon ausgehen, dass die Handschrift bereits Ende des 18. Jahrhunderts als das neunte Weltwunder in der Hand eines einzigen Menschen betrachtet wurde. Ähnlich dem Heiligen Gral.«
»Hm-hmm. In einem Tresor?«
»Oder in einer Kiste. Oder vielleicht noch einfacher, in der umfangreichen Bibliothek, wo es ein Buch unter vielen ist. Für jeden zu sehen, aber trotzdem so gut wie unsichtbar.«
»Irgendwo in einem Museum? Das neunte Weltwunder in einer offen herumstehenden Kiste? James, bist du närrisch? Mein Vater hätte sich niemals an etwas Derartigem beteiligt.«
»Dein Vater verbrachte Monate damit, draußen im Gras zu liegen und Dodos zu beobachten. Das war alles, was ihn interessierte.«
»Soll das heißen, ihm war alles egal?«
»Genau. Ich glaube, er ging davon aus, dass sich die Handschrift in sicheren Händen befand, bei wem auch immer, und wollte mit der Angelegenheit eigentlich nichts zu tun haben. Er war ein Poet, ein Wissenschaftler und, politisch betrachtet, ein Mann ohne Heimat.«
»Na schön. Mal sehen, ob ich es richtig verstanden habe. Das Buch befindet sich vielleicht in einer Kassette, möglicherweise einer Kassette, die irgendwo offen herumsteht, in einem Museum in Brügge. Dann ist das Ganze doch sehr einfach.«
»Das ist es eben nicht.«
Martin lächelte. »Natürlich nicht.«
»Es ist einmal umgezogen, möglicherweise auch zweimal, und zwar nach England, wie uns berichtet wurde, über Wien, vielleicht auch Elba und, nun ja, es ist nur eine Theorie, über Sankt Petersburg.«
»Aber ist es nach Belgien zurückgekehrt?«
James senkte den Blick. Er fühlte sich unsicher, ziemlich schlecht und war zutiefst bestürzt. Er musste sich in dieser Sache auf zu viele Eventualitäten verlassen. Und um ihn herum begann alles einzustürzen und unterzugehen.
Und dann war da noch die Angst vor Mördern, die es auf ihn abgesehen hatten.
Er blickte auf eine Rüstung in einer Nische, zwischen zwei dunklen Schränken kaum zu erkennen. Das stählerne Hemd des Großmeisters selbst, Kaiser Karl IV., der im Jahr 1713 den Toison d'or gegründet hatte, nach Jahren turbulenter, leicht der Vergessenheit anheimfallender Geschichte - ein Schlachtfeld, auf dem Mitglieder des Hauses Habsburg gefallen waren, Spanier, Holländer, Franzosen. Ursprünglich waren es vierundzwanzig Ritter, ehe ihre Zahl auf dreißig erhöht
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