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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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dass beide Arten von einem Grafen eingesammelt und im Bialowieza-Wald zwischen Polen und Weißrussland, dem größten noch existierenden Tieflandurwald in ganz Europa, ausgesetzt worden waren. Es leuchtete durchaus ein. Ornithologen hatten schon lange die Vermutung geäußert, dass der Dodo, wenn er es geschafft hätte zu überleben, die Stadtparks auf der ganzen Welt genauso dicht bevölkert hätte wie Stockenten oder Trauertauben.
    Jean-Baptiste Simons Gedanken kamen bei dem außergewöhnlichen Anblick abrupt zum Stillstand, und dann marschierte der Vogel schwerfällig, aber entschlossen und zielstrebig in einen dunklen Teil des Wäldchens.
    Simon setzte seinen Weg bis zum Château fort. Dabei hielt er sich so tief wie möglich geduckt, um von einer Reihe in Blei gefasster Fenster, die zu einem Arbeitszimmer an der Seite gehörten, nicht gesehen zu werden. Er lugte vorsichtig hinein. Niemand hielt sich dort auf.
    Er duckte sich wieder und schlich zu einem anderen Teil des Châteaus, hob vorsichtig den Kopf und erhaschte einen Anblick von sich selbst in einem großen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand einer Bibliothek. Er ging wieder auf Tauchstation und bemühte sich, seinen Atem zu beruhigen. Er hatte auch noch etwas anderes gesehen.
    Simon brachte seine Schusswaffe in Anschlag und richtete sich abermals auf. Vor ihm lagen zwei Körper ausgestreckt auf einem Steinboden.
    Simon ging in die Hocke, lehnte sich gegen den Kalkstein, wo zwei Mauern in einem Winkel von dreißig Grad aneinanderstießen und sich mitsamt ihren reichhaltigen Verzierungen der Burgundischen Renaissance in die Höhe reckten. Er griff nach seinem Mobiltelefon, überlegte es sich jedoch anders und verzichtete darauf, ein Wort oder auch nur eine Andeutung über seine missliche Lage zu verlieren. Er war alleine. Simon suchte das Gelände ab und hielt Ausschau nach einer Möglichkeit, hineinzugelangen, ohne die Ruhe des aufklarenden Wetters zu stören. Herrlicher Sonnenschein strahlte vom Himmel und brach sich funkelnd auf einer dünnen Schicht glitzernden Raureifs. Wolkenberge lösten sich auf und gestatteten zum ersten Mal seit Tagen einen ungehinderten Blick auf die natürliche Pracht des Morvan. Er schob sich in winzigen Etappen auf den Eingang zu.
    Die Tür stand offen.
    Simon schlich nervös durch einen Hausflur. Ihm kam plötzlich in den Sinn, dass er dies hier noch nie alleine getan hatte. Er war nicht besonders gut darin und kam sich mehr und mehr wie ein Popanz in einem alten B-Film vor, der vom Drehbuch gezwungen wurde, sich dafür zu wappnen, dass der unerwartete Angreifer ihn aus irgendeiner Türnische oder einem Seitengang ansprang.
    Überall hörte er ein unheilvolles Knarren und Klappern. Das Haus war lebendig, während der Wind durch offene Ritzen pfiff.
    Er gelangte zur Bibliothek. Dort lagen die Leichen und starrten einander an. Jede hatte eine Waffe in der erstarrten Hand. Sie hatten gleichzeitig gefeuert. Dem Aussehen nach schien der ältere Mann der Bewohner des Hauses zu sein. Der andere musste der Eindringling sein, da er die typische Tarnkleidung eines Wilderers trug.
    Beide Gewehre waren noch warm. Es konnte keine halbe Stunde vorher passiert sein. Er fand ein iPhone in der Hausjacke des älteren Mannes. Mit behandschuhten Fingern rief Simon die letzten gewählten Nummern auf. Die erste war keine Nummer, sondern eine Textnachricht. Sie lautete »straitbroogunfire«. Die zweite und letzte war eine Inlandsnummer. Er notierte beide auf einem Blatt Papier.
    Simon versuchte Le Bon anzurufen, aber er bekam keine Verbindung. Er hatte den Turm gesehen und suchte eine Treppe, da er richtigerweise annahm, dass eine erhöhte Position ihm zu besserer Signalstärke verhelfen würde.
    Da hing ein Gemälde von Maria von Burgund. Ihm entging die legendäre politische Madonna nicht. Jeder Einheimische kannte sie. Und dort, jenseits des Fensters, dehnte sich ein Anwesen in allen vier Himmelsrichtungen bis zum Horizont aus. Wald. Ein Laubdach, wie er es noch nie gesehen hatte. Baumriesen, wie er sie vielleicht in Borneo oder am Amazonas erwartet hätte, aber nicht in seiner burgundischen Heimat. Und flüchtende Papageien und Elefanten — keine Elefanten, Mastodonten! Sie alle auf dem Rückzug vor einer Gefahrenquelle im verschlungenen Labyrinth des Waldes. Aber auf der Flucht wohin?
    Simon schwankte, da er nicht wusste, was er tun sollte. Er versuchte abermals zu telefonieren. Diesmal mit mehr Erfolg. »Paul, ich bin im Kloster. Mein

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