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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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befinden musste. Dies hatte sich sehr leicht mithilfe des Mobiltelefons im Ärmel seiner Kutte feststellen lassen, die ordentlich in einem Schrank in der Nähe des Stockwerks hing, in dem er von einem Springer-Spaniel aus dem Haus nebenan gefunden worden war. Das heftige, nicht nachlassende Gebell des Hundes hatte die Nachbarn zu seinem gekrümmt daliegenden Körper geführt.
    Le Bon hatte die nächste Polizeieinheit zu der Adresse zwischen der Rue d'Avril und der Rue du Merle geschickt. In der Nähe befand sich eine Inschrift des berühmten Malers Pierre-Paul Prud'hon, mit der er die größte Konzentration von Kirchen und anderen architektonischen Besonderheiten auf Erden lobte. Da waren fast vier Hektar Kuppelgewölbe, hell leuchtende Lampen, freie Plätze, Refektorien, Bibliotheken und eine Kirche nach der anderen für die vierhundert Mönche, die Cluny einst für das gesamte Christentum zum Zentrum der Gelehrsamkeit gemacht hatten.
    Nach der Revolution war ein großer Teil der Stadt wegen des unschätzbar wertvollen weißen Mauersteins verkauft worden. Eine Straße wurde genau durch das Mittelschiff der großen Kirche gelegt.
    Das Rührei auf einem Teller mit dem Stempel einer dreihundert Jahre alten Porzellanfabrik in der Nähe war noch warm. Im Kamin brannte ein Holzscheit. Aber nichts deutete darauf hin, dass der Bewohner sein Heim überstürzt verlassen hatte. Es gab keinerlei Spuren, die in das Haus hinein- oder aus ihm herausführten. Kein Nachbar hatte etwas gehört oder gesehen. Und in der Garage stand ein Volvo, der dem Pensionär gehörte, der von Bewohnern des Dorfs als Held, als Freiheitskämpfer gefeiert wurde, der es während des Zweiten Weltkriegs geschafft hatte, die Nazis in die Irre zu führen und auf diese Art und Weise die gesamte Gemeinde zu retten, und die vergangenen fünfzig Jahre als ernster, in sich gekehrter Mensch verbracht hatte.
    Aber wo war er? Und warum hatte Bruno den älteren ehemaligen Mönch angerufen, kurz nachdem er seiner Nichte seine Weltuntergangsvision hinterlassen hatte, die sie Le Bon vorgespielt hatte? Sowohl Julia Deblock als auch der Inspektor erkannten, dass Bruno auf irgendetwas Wichtiges gestoßen war. Aber worauf?
    »Er litt unter hohem Blutdruck. Vielleicht ahnte er sein Ende voraus und wollte sich verabschieden«, meinte Julia Deblock. Sie wusste, dass ihr Onkel in Cluny studiert hatte. Der Altersunterschied ließ auf ein Lehrer-Schüler-Verhältnis schließen. Vielleicht hatte Pater Bruno bei Pater Bladelin studiert.
    »Was sollte er studiert haben?«, fragte Le Bon, als würde eine Antwort die Vorgänge auf irgendeine Weise plausibel erklären. »Wie auch immer, ich glaube das nicht. Er hat ihn kurz nach seinem zweiten Anruf bei Ihnen zu erreichen versucht. Er hatte nicht die Absicht, Lebewohl zu sagen.«
    »Sehen Sie!« Einer der Beamten fand im Fußboden im hinteren Teil der Küche so etwas wie eine Falltür. Sie stemmten sie mithilfe eines Brecheisens, das sie im Kofferraum des Volvos fanden, auf und entdeckten Treppenstufen, die in die Finsternis hinabführten, und einen Tunnel mit Lehmboden ohne irgendeinen Hinweis auf seine Richtung und seine Länge. Laut den Nachbarn war er von Juden, vielen Katholiken und Résistance-Kämpfern benutzt worden.
    Und auch von Bladelin, denn da waren seine Fußabdrücke und verrieten eine für einen Achtundneunzigjährigen erstaunliche Gewandtheit auf seinem Weg unter dem hohen Glockenturm entlang und durch die Verliese unter der Abteikirche von Jean de Bourbon und unter den Kapellen von Sankt Martial und Sankt Etienne. Von Cluny führten Wege hinaus in die ganze Welt. Aber Pater Bladelin kannte offensichtlich eine ganz spezielle Route, für die er sich entschieden hatte.
    Drei Beamte suchten sich die passenden Waffen aus, knipsten ihre Taschenlampen an und hefteten sich an seine Fersen. In der Wohnung war nirgendwo ein Mobiltelefon zu finden. Er musste es mitgenommen haben.
     
    Simon starrte die Kreatur an. Die Kreatur erwiderte seinen Blick, und irgendetwas an ihrer Haltung — wie sie den Kopf schief hielt und sich schüttelte — brachte Simon auf den Gedanken, dass sie fast mit ihm flirtete. Es war, dessen war er sich ganz sicher, ein Albino- oder Weißer Dodo, Raphus cucullatus, der gut sechzig oder mehr Pfund wog und in einem Wäldchen aus Calvariabäumen herumstolzierte. Sowohl der Baum als auch der angeblich schwimmfähige Vogel sollten eigentlich vor 1700 ausgestorben sein, jedoch gab es um 1800 Vermutungen,

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