Bestiarium
im Dickicht auf ihn gewartet hatte. Doch er hörte nur das aufgeregte Kreischen aufgescheuchter Vögel sowie ein dumpfes Brüllen, das von dem fernen, unverkennbaren Lärm heftigen Gewehrfeuers unterbrochen wurde. Auf Grund des Windes und des dichten Regens sowie des Labyrinths aus Tälern und Hügeln ringsum war seine Herkunft nicht genau auszumachen.
Er durchsuchte das Fahrzeug. Im Handschuhfach — eine Betäubungspistole, Pfefferminzbonbons und ein Notizbuch, das er sofort einsteckte. Er hatte keine Zeit, es zu lesen. Im Frachtabteil des Wagens — mehrere Tierkäfige.
Dann entdeckte er die tiefen Fußabdrücke, die durch den Morast in den Eichenwald führten. Er schloss seinen eigenen Wagen ab und folgte der Spur. Sie verlief bis zu einer Mauer, von der aus er das prachtvolle weiße Bauwerk erblickte. Er erkannte auf Anhieb, dass verschiedene Baustile darin verewigt waren. Der Taubenturm stammte eindeutig aus dem 12. Jahrhundert, während der letzte Anbau nach seiner Berechnung erst im 18. Jahrhundert hinzugefügt worden war.
Simon erkletterte die Barriere mithilfe kleiner Vorsprünge und Löcher im Mauerwerk, die seinen Fingern und Zehenspitzen Halt boten, sowie von Teilen der Eisenarmierung, die im Laufe der Jahrhunderte von der Witterung freigelegt worden waren. Auf der Mauerkrone benutzte er einen Ast, um den dünnen Draht zu testen, der anscheinend zu einem Alarmsystem gehörte. Er war, wie er erwartet hatte, tot. Nicht das leiseste Summen ertönte.
In einer Höhe von etwa drei Metern sicherte er seine Pistole, ließ seine Beine herabbaumeln, schwang mehrmals hin und her und sprang auf der Innenseite der Mauer in den Morast hinunter.
Simon befand sich jetzt auf einer Lichtung, brachte seine Waffe in Anschlag und blickte hinüber zu zwei dicht hintereinander liegenden Toren. Auch sie gaben kein Summen von sich. Er folgte den Fußspuren, überwand zwei weitere Tore und stand schließlich direkt unterhalb des Gebäudes, als der Rufton seines Mobiltelefons erklang.
»Ja?«, meldete er sich beinahe flüsternd.
»Ich bin's, Le Bon«, antwortete die Stimme. Sie war wegen der schlechten Verbindung kaum zu verstehen. »Pater Bruno hatte einen schweren Herzinfarkt. Er liegt in der Notaufnahme. Julia ist bei ihm.«
»Das tut mir leid.«
»Ich weiß nicht, ob er den Infarkt überlebt. Aber es gibt noch mehr.«
»Warten Sie einen Moment.«
Simon war wie vom Donner gerührt, als er aufmerksam in Richtung des Hauses blickte. Die schlimme Neuigkeit war nicht annähernd so überraschend wie der große Vogel, der vor ihm aufgetaucht war und ihn mit einem Ausdruck betrachtete, als sei er ein möglicher reizvoller Partner.
Und dann ging die Verbindung in einem Rauschen unter.
KAPITEL 45
B runos linke Hand umklammerte die ovale Medaille des heiligen Benedikt, die an einer Kette um seinen Hals hing. Er lag bewusstlos in der Notaufnahme des Antwerpener St.-Elisabeth-Hospitals. Der Herzanfall war beinahe tödlich gewesen und hatte mehrere kleinere Folgeinfarkte ausgelöst. Brunos Überlegungen hatten am Ende dazu geführt, dass er von Schuld- und Angstgefühlen völlig gelähmt wurde.
Julia Deblock stand im Flur der Intensivstation und unterhielt sich mit Paul Le Bon und Fabritius Cadiz. Es gab nichts, was sie im Augenblick für ihren Onkel hätte tun können. Sein Schicksal lag allein in den Händen der Ärzte.
Aber sie hatte keine Schwierigkeiten, die Telefongespräche ihres Onkels bis zu dem Moment seines Beinahe-Selbstmords und des anschließenden Herzinfarkts zurückzuverfolgen. Bruno hatte Julia um zwölf Minuten vor acht Uhr morgens angerufen und eine Nachricht hinterlassen, in der er sie vor einer merkwürdigen Kombination von Ereignissen warnte: dem Tod der Ozeane, dem Tod der Wälder und dem Ende der Welt. Er bat sie, für seine Seele und die Seelen der gesamten Schöpfung zu beten.
Minuten später hatte er abermals angerufen, irgendetwas über Paradise Lost erzählt und sich entschuldigt, sie erschreckt zu haben. Sein Glaube sei kurzzeitig ins Wanken geraten, und er habe beinahe seinen inneren Halt verloren.
Sie kannte ihren Onkel nicht gut genug, um in seinem Verhalten, seinen Predigten oder seinen Schriften jemals diesen Grad apokalyptischer Schwermut bemerkt zu haben. Er hatte wirklich nie zuvor eine derart düstere Seite bei sich offenbart.
Keine zwei Minuten nach seinem zweiten Anruf bei Julia hatte Pater Bruno eine Nummer gewählt, deren Eigentümer sich in der Nähe des Klosters Cluny
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