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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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sind Sie?«, fragte Simon geduldig. Er konnte nirgendwo ein erlegtes Wild sehen. Vielleicht waren sie auf ihrem Weg zum Wald überrascht worden. Simon hatte versucht, Mans anzurufen, nachdem er Le Bon seine Nachricht geschickt hatte, aber die Funknetzabdeckung in diesem Teil des Morvan war lückenhaft bis nicht vorhanden.
    Simon gewahrte das Funkeln eines Sonnenstrahls, der von einer ovalen Metallscheibe an einer goldenen Kette, die der alte Mann um seinen Hals trug, reflektiert wurde — eine Medaille des heiligen Benedikt.
    »Sind Sie Benediktiner?«, fragte Simon.
    »Ja«, erwiderte der alte Mann und ließ das Gewehr sinken, mit dem er seinen Gegner bis zu diesem Moment in Schach gehalten hatte.
    »Wir sind nicht die Bösen«, versicherte Simon und deutete ihm mit einer Geste an, dass er seine Waffe senken würde, wenn die Mönche — denn er war mittlerweile davon überzeugt, dass die Männer keine Wilderer waren — ihre feindselige Haltung aufgeben würden.
    »Okay, fangen wir von vorn an«, sagte Simon.
    »Oben auf dem Berg sind noch weitere«, äußerte Hubert Mans sich jetzt zu dem seltsamen Gefecht, bei dem es offensichtlich keine Bösewichter gab außer einem einzigen, der ohne ein Anzeichen von Reue oder Identität im Polizeiwagen saß.
    Simon musterte seinen Partner und versuchte aus seiner Haltung auf die stattgefundenen Ereignisse zu schließen.
    Über ihnen war plötzlich heftiges Gewehrfeuer zu hören, ausgelöst durch einen klassischen Rollentausch, wie er einmal in Südost-Alaska beobachtet worden war. Dabei hatte ein Grizzly mit einem einzigen Tatzenhieb den Mann, einen Großwildjäger, geköpft, der ihn seit Tagen verfolgte. Wie hatte der Bär es geschafft, sich unbemerkt an den erfahrenen Schützen anzuschleichen? Niemand würde es je erfahren.
    Der alte Mönch, Pater Bladelin, überließ es seinen Gefährten, die Lage zu klären, und rannte davon in Richtung des Tals, in dem die Auseinandersetzung zuerst aufgeflackert war, und verschwand außer Sicht. Simon konnte über den schnellen Abgang nur staunen und war sich unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte.
     
    Pater Bladelin teilte seine Kräfte ein wie ein Läufer, wurde nicht langsamer, geriet nicht außer Atem und zeigte keinerlei Anzeichen von Furcht. Er marschierte entschlossen jenseits der Mauer mitten ins Herz seines geliebten Heiligtums. Er blieb stehen, um genussvoll die Morgenluft des Morvan einzuatmen, dann setzte er seinen Weg in den inneren Wald von Steineiben und verschiedenen anderen Baumarten fort. Das hauptsächlich von Rot- und Schwarzkiefern geprägte Blätterdach, das man nirgendwo sonst in Europa in dieser Form finden konnte, beschirmte einen Überfluss an beinahe tropisch anmutenden Lebensformen — Schmetterlinge, Würmer, Epiphyten, Lianen, die verschiedensten Farne und beinahe unzählige Vogelarten.
    Dank der großen Mengen abgestorbenen Holzes gab es hier mehr Käferarten und seltene Weißrückenspechte als an jedem anderen Ort des Kontinents. Eine Menge von Lebewesen, die meisten seit Jahrtausenden nicht mehr gesehen, waren überhaupt nicht glücklich über menschlichen Besuch. Dreizehenspechte zwitscherten und tuteten in teilweise mehr als sechzig Meter hohen Fichten. Ein Luchs verließ fluchtartig den Ort des Todes. Wölfe heulten, aufgescheucht von einem Eindringling, den sie nicht gerufen hatten, und empfanden entsetzliche Furcht und kein Zutrauen. Mächtige Wisente stürmten durch das dichte Unterholz.
    Während Bladelin in die oberen Etagen des von Nebel verhüllten Tals hinaufstieg, waren Tausende von Vögeln zu sehen, die zwischen den Baumwipfeln und den tief hängenden Wolken hin und her flatterten — darunter Seeschwalben, ein Andenkondor, Goldfinken und Trogone, Sittiche und Hokkos.
    Eine kleine Gruppe gemächlich dahinziehender Proteles cristatus, Erdwölfe, sowie Karakals suchten die Gemeinschaft eines Riesenfaultiers und mehrerer Burchell-Zebras, Spitzmaulnashörner und Großer Kudus. Da waren Riesentrappen, Warzenschweine und Exemplare von gut zweihundert »ausgestorbenen« Vogelarten, die sich nach einiger Zeit aus allen Himmelsrichtungen einfanden.
    Weiter voraus konnte er die Unruhe spüren, die die vom Regen durchnässte Graslandschaft um den Ort, wo der Tod gewütet hatte, erfasst hatte. Während er sich diesem Punkt näherte, sah er Dutzende von Ottern von Ästen herabbaumeln und sich in Erwartung des Unvorstellbaren hin und her schlängeln.
    Dort hatte der Mensch abermals seine

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