Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
tagtäglich zu erleben und auf der anderen Seite der Elfenbeinturm der Wissenschaft, der versucht, die schier unendliche Anzahl von einzelnen Bausteinchen mit überprüf- und wiederholbaren Gesetzen zu erklären. Zwei Gegensätze, die sich bei mir untrennbar miteinander verknüpften, und während ich das dritte Jahr bei der gleichen Familie als Polizist einschreiten musste, weil der ständig betrunkene und in der Regel arbeitslose Vater seine kleinen Kinder unter dem Weihnachtsbaum verprügelte, stellte sich bei mir unweigerlich die Frage nach dem Warum , die ich aber nur teilweise durch die Erläuterungen auf der Universität beantwortet fand.
Der vermeintliche Selbstmörder mit seinem angedeuteten Loch im Kopf, der Umstand, dass mich seine klare und prägnante Aussage darauf zurückführte, dass wir Entscheidungen und Verhalten anderer Menschen zwar nicht messen können, aber zunächst an einer Veränderung in der Umwelt feststellen, war für mich der Start zu neuen Überlegungen und in neue Erfahrungswelten, die ich versuchte zu betreten.
Make it as simple as possible! Denn alle Theorien und all die Tausenden Beobachtungen fasste ich nach dem Gespräch mit meinem Posträuber zusammen.
Erstens: Jedes menschliche Verhalten ist bedürfnisorientiert. Da die Bedürfnisse aber individuell und je nach Situation immer wieder unterschiedlich sind, sind sie nach außen auch nicht sichtbar, außer wenn jemand eine aktive Handlung setzt, indem er sich zum Beispiel ein bestimmtes Auto kauft, seinen Schreibtisch in Ordnung bringt, eine bestimmte Schuhmarke verwendet oder sich ein Loch in den Kopf schießt.
Zweitens: Seine aktiven Entscheidungen führen zu einer Veränderung in der Umwelt, indem er eben plötzlich ein anderes Auto fährt, sein Schreibtisch einen ordentlichen Eindruck macht oder er nicht mehr lebt. Wenn wir diese Veränderungen durch entsprechend ausgebildete Spezialisten festhalten können, beschreiben und begutachten, wäre es doch möglich, zunächst über diese objektiven Merkmale der Veränderung auf seine Einzelentscheidungen und im Vergleich mit vielen anderen Delikten oder Verhaltensweisen rückwirkend auf das Bedürfnis des Menschen zu schließen und damit auf sein Motiv, auch wenn wir ihn gar nicht kennen. Fantastisch!
Drittens: Mir war aber auch klar, dass man das Verhalten eines anderen Menschen nicht freiwillig ändern kann. Zwei Freundinnen könnten sich noch so oft unterhalten, wobei die eine der anderen zum wiederholten Male den Ratschlag gibt, sich doch von ihrem vermeintlichen Lebenspartner zu trennen. Sie wird es trotzdem nicht tun. Erst das Eingehen auf das darunter stehende Bedürfnis ermöglicht eine Verhaltensveränderung.
Viertens: Menschliches Verhalten ist zu komplex, als dass wir es katalogisieren könnten. Wir sollten tunlichst vermeiden, das Verhalten einer anderen Person mit unserer moralischen und ethischen Einstellung zu beurteilen, wenn es sich um eine Entscheidung handelt, die wir gar nicht nachvollziehen können – wenn diese Person eben in einer Erfahrungswelt lebt, die wir noch nicht betreten haben.
Euphorisch ging ich jetzt dazu über, an jene Örtlichkeiten heranzukommen, welche die umgesetzten Entscheidungen einer anderen Person widerspiegelten, nämlich an Tatorte. Bald erkannte ich die eingeschränkten Möglichkeiten im Rahmen meiner Tätigkeit als Streifenpolizist. Ich musste dorthin gelangen, wo es mehr Verbrechen gab, wo andere Spezialisten wie Rechtsmediziner, Toxikologen, Fotografen und Kriminalisten arbeiteten, die tagtäglich mit Kapitalverbrechen zu tun hatten. Sosehr ich in all den Jahren davor bestrebt war, hinauszugehen, um jeden Tag neue Informationen zu sammeln, desto mehr zog ich mich nun zurück, um meine Erkenntnisse zu ordnen. Ich sprach mit Ärzten und Psychologen, mit Psychiatern und Kriminalisten über meine grundsätzliche Idee, eine Art rückführende Klassifizierung durchzuführen, Menschen anhand ihrer Entscheidungen, welche die Umwelt veränderten, zu beurteilen.
12.
Man stand der Sache eher kritisch gegenüber. Es gab Universitätsprofessoren, die den Ansatz grundsätzlich für möglich hielten, sich aber nicht erklären konnten, wie man an die Daten herankommen könne. Andere wiederum bezweifelten, ob es überhaupt eine Aussagekraft besitze, ob jemand seinen Jahreskalender in der Form eines jährlichen Werbegeschenkes seiner Hausbank nützt oder eben eine in Schweinsleder gebundene Kalenderfassung in Buchform, für die er ein halbes
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