Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
unter bestimmten Voraussetzungen in eine Situation kommen, wo er einen anderen tötet“? Shakespeare beschreibt in seinem Königsdrama, dass die Frau, die vor dem Mörder ihres Mannes und ihres Schwiegervaters steht und die Gelegenheit hat, diese Taten zu rächen, es nicht tut. Warum nicht? Weil Gloucester die Gabe der Antizipation besaß. Er wusste, dass sie es nicht tun konnte, er wusste um ihre Bedürfnisse. Nachdem dieser Ablauf weder historisch verbrieft noch sonst irgendwo schriftlich festgehalten ist, außer in jenem Königsdrama von Shakespeare, kann man davon ausgehen, dass auch der Autor selbst die Gabe der Antizipation besaß, diese schärfste intellektuelle Waffe, die es überhaupt gibt. Sonst hätte er nicht diese Szene erfinden und dem Herzog von Gloucester diesen verbalen Hauch des Todes eingeben können. Die einen schreiben mit diesen Fähigkeiten Königsdramen und die anderen verwenden ihr Wissen, um andere Menschen zu manipulieren, aus dem Schutz der Gesellschaft herauszuholen, zu quälen oder zu töten. Gleiche Fähigkeiten – anderes Verhalten. Warum?
Diese Frage beschäftigt die Kriminalpsychologie heute noch, weil wir mit ihrer Beantwortung unter Umständen präventiv gewisse Delikte verhindern könnten. Aber noch wissen wir viel zu wenig darüber.
14.
Noch sitze ich in Innsbruck im Wachzimmer und warte. Ich warte, um an Tatorte heranzukommen, um mit Leuten sprechen zu können, die sich gleiche oder ähnliche Gedanken gemacht haben. Ich warte darauf, die wahren Spezialisten in der Verhaltensbeurteilung kennenzulernen, mit ihnen zu sprechen und von ihnen Erklärungsansätze zu erhalten. Jene Personen, die gewisse Abläufe nicht nur beschrieben, nicht nur darüber gesprochen, sondern auch tatsächlich in die Realität umgesetzt haben: Vergewaltiger und Tierschänder, Brandstifter und Mörder, Kannibalen und Menschenblut trinkende Vampire. Scheinbar waren die Mühlen der Bürokratie langsam, meine diversen Vorsprachen bei wichtigen Entscheidungsträgern fruchtlos. Denn im Winter des Jahres 1991/92 fand ich mich immer noch um drei Uhr morgens bei mehreren Minusgraden hinter einer zu bewachenden Botschaft als uniformierter Polizist wieder, der ein sehr ausdrucksstarkes und obszönes Wort in lebensgroßen Buchstaben in den Schnee trat. Die Zecke fror, sie wurde immer dünner, aber sie wartete. Aufgrund der vielen Gespräche und Diskussionen, die ich hauptsächlich mit älteren, erfahrenen Menschen geführt habe, bin ich davon überzeugt, dass jeder Mensch zweimal in seinem Leben Glück hat, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Das ist nicht beweisbar, es ist nur ein Gefühl: zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort den richtigen Menschen kennenzulernen. Die Crux dabei ist, man weiß in der Regel nicht, ob der Zeitpunkt gekommen ist oder nicht und ob man nun selbst aufgefordert ist, aus dieser „glücklichen Fügung“ etwas zu machen.
Was ich aber auch erkennen musste, war, dass in der Regel junge Menschen keine Zeit haben – irgendein Umstand muss jetzt und sofort erledigt werden. Erst Leute, die in ihrer zweiten Lebenshälfte stehen, erkennen, dass es einen Unterschied gibt zwischen Ursache und Wirkung, zwischen situativen Affekthandlungen und planender Vorbereitung.
Erstaunlicherweise finden wir diese Alltagsweisheiten bei entsprechender qualitativer Spurenlage auch an den Tatorten wieder, indem wir über die Art der Opferauswahl und den Planungsgrad eines Verbrechens etwas über die Lebenserfahrung der Täterschaft aussagen können.
Immer wieder sprechen mich junge Leute anlässlich von Vorlesungen auf den Universitäten an und bitten mich um Rat, welchen Weg sie für ihr zukünftiges Leben einschlagen sollen. Anfragen von Studentinnen und Studenten, manche bereits mit abgeschlossenen Studien, zieren mehrere Ordner meines Büros und beinhalten in der Regel eine zielgerichtete Frage: Was kann ich neben meinem Studium noch tun? Meine Antwort ist immer die gleiche: „Lernen Sie die Gesetze des Lebens nicht nur aus den Büchern, sondern auch aufgrund der Gesetzmäßigkeiten der Straße.“
Jahre später habe ich in zahlreichen Interviews in Hochsicherheitsgefängnissen eine eigenartige Erfahrung machen müssen. Die intelligentesten Mörder, welche ihre Taten lange geplant hatten, gaben mir immer wieder zu verstehen, dass man ihnen zwar alles wegnehmen könne, die Freiheit, das Geld, aber was sie für sich immer noch in Anspruch nahmen, waren ihre Erfahrung und ihr
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