Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
hatte eine Idee, eine Vision, und begann erstmals mit Tätern in Hochsicherheitsgefängnissen zu sprechen. Er holte Rechtsmediziner, forensische Psychologen, Psychiater, Toxikologen, pensionierte Kriminalbeamte in die Verhaltensforschungseinheit, um gemeinsam mit ihnen an der Möglichkeit einer Verhaltensbeurteilung zu arbeiten. Er holte Statistiker, Biologen, er baute ein Netz an Informanten in verschiedenen Hochsicherheitsgefängnissen auf und positionierte einzelne Koordinatoren, die ihm vor Ort die logistischen Schwierigkeiten aus dem Wege räumten. Aber er blieb für mich unerreichbar: eben wie eine Legende.
21.
Zurückgekehrt nach Wien, war für mich rasch klar, dass ich die nunmehr gesammelten Ergebnisse mit meinen alten vergleichen, jene gegebenenfalls ergänzen musste. Meine Systematik musste verbessert und standardisiert werden. Vor allem brauchte ich mehr europäische Fälle. Gleichzeitig versuchte ich so viele Informationen wie möglich zusammenzutragen, die von anderen Personen aus anderen Disziplinen zu diesem Thema gesammelt und aufgearbeitet worden waren. Doch weder in älterer Literatur noch in neueren Publikationen fanden sich übertrieben viele Angaben zu sexuellen Tötungsdelikten, außergewöhnlichem Verhalten und der tatortanalytischen Betrachtungsweise von Sexualdelikten. Die Fälle, die man Jack Unterweger angelastet hatte, wurden in Zusammenarbeit mit den amerikanischen Kollegen mit US-amerikanischen Fällen verglichen. Das FBI zeigte uns ein entwickeltes Datenbanksystem, bei dem anhand von zahlreichen Einzelinformationen auch ein elektronischer Abgleich möglich war. Ein derartiges System gab es in Europa nicht. Es war augenscheinlich, dass die mehr als notwendige Aufarbeitung dieser Fragestellung das Einbinden anderer Disziplinen im deutschsprachigen Gebiet erforderlich machte. Aus all den Informationen, die ich aus den Vereinigten Staaten mitgebracht hatte, verstand man zunächst im deutschsprachigen Raum immer nur das Wort „Serienmörder“ und war der Meinung, dass man kriminalpsychologische Erkenntnisse eben nur an Serienmorden anwenden konnte, was natürlich nicht stimmte. Das Wort „Profiling“ wurde immer häufiger, aber auch immer öfter im falschen Zusammenhang gebracht und schließlich wurde nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern insbesondere auch innerhalb der Kriminalpolizei nur noch vom „Erstellen der Täterprofile“ gesprochen.
Eine äußerst unglückliche Entwicklung, die vor allem auch von jenen unterstützend gefördert wurde, die sich zwar mit der Themenstellung per se, aber nicht mit den methodischen Grundsätzen, den Einzelaspekten, den erforderlichen Arbeitsabläufen und vor allem nicht mit den mehr als notwendigen Vergleichsfällen auseinandersetzten.
Da gab es Leute, die Jahre später immer noch von „stupiden Tätertypologien“ sprachen, ohne zu wissen, dass die Kriminalpsychologie niemals mit Tätern, sondern nur mit Verhalten agiert. Da gab es Unwissende, die von einer unseriösen Vorgangsweise sprachen und daran verzweifelten, dass sie ihrem selbst auferlegten Nimbus des „Profilers“ nicht gerecht werden konnten, weil sie in Ermangelung des Basiswissens keine Ergebnisse erzielten. Ja, ich kannte diesen frustrierenden Zustand, der mir am Anfang meiner Beschäftigung das Leben immer wieder schwer machte. Ich hatte aber auch Kinder in der Sandkiste beobachtet, die zu wenig Wasser für ihre Sandburgen verwendeten und aus Zorn darüber, dass anderen die Sandgebilde nicht zusammenfielen, wahllos begannen, mit ihren Sandschaufeln auf die Erfolgreichen einzuschlagen. Es gab jene, die sich selbst als „Profiler“ bezeichneten und bei der einfachen Fragestellung, ob denn ein Unterschied zwischen der Tatortanalyse und dem Erstellen eines Täterprofiles bestehe, hilfesuchend die Augen rollten und mit einer Gegenfrage antworteten: „Ist das nicht das Gleiche?“
So traf ich noch Anfang der 90er-Jahre einen verbitterten alten Mann, dem die politische Neuordnung in Europa zum Verhängnis geworden war. Ich traf ihn in seinem alten Gartenhaus in Berlin, wo ich ihn inständig bat, mir über seine Erfahrungswelten zu erzählen, über seine Forschungsvorhaben und über seine Fälle, die er als Mediziner und Leiter des Lehrstuhles für Forensische Psychiatrie der Humboldt-Universität Berlin während der Zeit der Deutschen Demokratischen Republik zusammengetragen hatte. Prof. Dr. Hans Szewczyk war ein äußerst angenehmer, zurückhaltender und höflicher
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