Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
Zustand einzupacken und karitativen Zwecken zur Verfügung zu stellen. Alle drei Handlungen, nämlich das Zudecken des Verletzungsbildes, der eigentlich tödlichen Stichwunde, das Zudecken des gesamten Opfers mit einer Staub abweisenden Überwurfdecke und das abermalige Zudecken mit einem Rot-Kreuz-Sack, haben per se mit der Tötungshandlung nichts zu tun. Aber sind sie deshalb unwichtig? Wer kann uns darüber Auskunft geben? Was bedeutet dieses Verhalten? Ist es sowohl für die Beurteilung des Deliktes als auch unter Umständen für die Gefährlichkeit des Täters von Bedeutung?
Aufgrund der Möglichkeit, dieses Verhalten mit Hunderten anderen Delikten zu vergleichen, bei denen gleiches oder ähnliches Verhalten festgestellt werden konnte, ist die Kriminalpsychologie heute in der Lage, das Zudecken von Verletzungsbildern oder des gesamten Opfers als „Depersonifizierung“ zu klassifizieren.
Die Täter versuchen ihr Verhalten, also entweder die tödlichen Wunden, die Opfer selbst oder das gesamte Tatgeschehen, unmittelbar nach der eigentlichen Tat aus ihrer Erinnerung abzuspalten. Sehr vereinfacht ausgedrückt, wollen sie nichts mehr damit zu tun haben. Wir sind im Vergleich mit anderen Delikten heute in der Lage, dieses einzigartige Verhalten noch in Subklassifikationen einzubringen, deren Bedeutung wir immer besser verstehen. Können wir denn diese Informationen nützen, um zum Beispiel sagen zu können, ob die Person besonders gefährlich ist oder nicht? Die Antwort ist: ja.
So erstaunlich es nun klingen mag, aber das Zudecken eines Opfers kann im Zusammenhang mit anderen Entscheidungen prognostisch äußerst günstig eingestuft werden, im anderen Fall kann das Zudecken beim Zusammentreffen mit anderen Entscheidungen prognostisch äußerst ungünstig zu beurteilen sein. Daran erkennen wir die Komplexität einer psychologischen Beurteilung, dass nämlich ein und dasselbe Verhalten, etwa das Zudecken des Opfers, im Zusammenspiel mit anderen Entscheidungen zwei unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Das bedeutet aber auch, dass wir niemals aus einem Faktum eine Schlussfolgerung ziehen können, sondern dass die Gesamtheit immer mehr ist als die Summe der Einzelheiten.
Der Staatsanwalt könnte sich nun nicht damit zufrieden geben, dass er einen geständigen Täter hat und dass er aufgrund der Aussage und mithilfe der einzelnen Spuren nachweisen kann, wer wen umbrachte. Er könnte etwas darüber hinausgehen, andere Bausteinchen zusammentragen und vielleicht damit den Grundstein dafür legen, dass ein bestimmtes Delikt irgendwann nicht begangen wird. Nimmt er nämlich nicht nur zur Kenntnis, dass die Todesursache Erstechen ist, sondern entnimmt er dem Obduktionsbericht, dass die Halsweichteile der Großmutter massiv unterblutet sind, würde er auf den Tatortbildern jenen Stuhl erkennen, dessen hölzerner Verbindungssteg zwischen dem vorderen linken und rechten Stuhlbein genau auf den Halsweichteilen der Großmutter aufliegt, dann würde er die Schlussfolgerung ziehen, dass an diesem Tatort noch etwas anderes passiert ist. Er würde als weitere Veränderung der Umwelt feststellen, dass in einem kleinen Abfalleimer eine Geldnote mit relativ hohem Wert aufgefunden wurde, doch all diese nicht nachvollziehbaren Veränderungen würden das Gesagte des Täters nicht erklären. Er würde den Auftrag geben, die Biografie des Opfers genau zu durchleuchten. Nach Tagen der Ermittlung würde man ihm mitteilen, dass die alte Frau nie betrunken war. Es fand sich überhaupt niemand, der bestätigt hätte, dass sie in den letzten 20 Jahren nur ein einziges Mal einen geschlechtlichen Kontakt zu irgendjemandem hatte. Ganz im Gegenteil, es fanden sich viele Leute, die Auskunft darüber gaben, wie schwierig es für die alte Frau war, den jungen Burschen über Wasser zu halten. Sie war finanziell kaum in der Lage, ihm die notwendigsten Dinge zukommen zu lassen, aber sie war sehr sparsam und so gelang es ihr, ihm eine vernünftige Ausbildung zu ermöglichen. Zahlreiche Krankheiten und dadurch bedingte Aufenthalte in Krankenhäusern zwangen die alte Frau, das Kind manchmal in Heimen abzugeben, aber es brach ihr jedes Mal das Herz.
Aufgrund dieser neueren Erkenntnisse, welche der Staatsanwalt nicht nur aus den Spuren, sondern auch aus den Interpretationen des Verhaltens gewann, ergibt sich nun eine andere Geschichte. Der junge Mann war tatsächlich an seinem Geburtstag zu seiner Großmutter gegangen und hatte von ihr Geld verlangt. Der
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