Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
doch nur zwei Monate geblieben! Und abermals schloss ich meine Augen, weil sich plötzlich ein anderes Bild vor mir auftat.
28.
Die Lüge …
… ist nicht sofort erkennbar. Es sind die kleinen Details, welche die Wahrheit von der Lüge unterscheiden. Es war wie immer eine Frage der Betrachtungsweise, und die objektiven Kriterien halfen dabei weiter.
Der junge Mann leugnete erst gar nicht, dass er seine Großmutter umgebracht hatte, er erzählte offen seine Geschichte. Mit etwa drei Jahren habe ihn seine Mutter, an die er sich gar nicht mehr erinnern könne, an seine Großmutter abgegeben. Sein Vater habe sich bereits kurz nach seiner Geburt aus dem Staub gemacht. Die erste Erinnerung, die er tatsächlich habe, war der Weg in ein Kinderheim. Im Alter von fünf Jahren sei er wieder zurückgekehrt zu seiner Oma. Er wurde von ihr ständig geschlagen – Rückkehr ins Heim und abermalige Aufnahme bei der einzigen Verwandten. Diese sei aber ständig betrunken gewesen und aufgrund der engen räumlichen Verhältnisse habe er auch schon im Alter von sieben oder acht Jahren beobachten müssen, wie sie häufig wechselnde Geschlechtspartner hatte. Manchmal wurde er sogar gezwungen, Alkohol zu trinken, und die vielen Wechsel zwischen der nahezu „familiären“ Aufnahme in einem „katastrophalen Elternhaus“ und den verschiedenen Heimen, die er in seinem Leben bereits gesehen hatte, waren ihm gar nicht mehr alle in Erinnerung. Endlich hatte er im Alter von 17 eine Lehre abgeschlossen, ein kleines Zimmerchen angemietet und voll Hoffnung dachte er an eine neue Zukunft. An seinem Geburtstag sei er zu seiner Großmutter gegangen, habe ihr Frieden angeboten und ihr gegenüber erwähnt: „Oma, es ist alles in Ordnung. Unser Leben bisher war nicht sehr einfach, aber ich bin dir deshalb nicht gram. Schau, ich habe einen abgeschlossenen Beruf, habe eine kleine Wohnung und möchte ein neues Leben beginnen.“ Seine Oma war aber wieder betrunken. Sie habe ihn beschimpft, gedemütigt, ja sogar mit dem Stock geschlagen – und in einem rasenden Anfall von Wut und Hass sei sein ganzes Leben auf einmal hochgekommen. Er habe ein herumliegendes Küchenmesser genommen und zugestochen. Wohin? Er wisse es nicht mehr.
Eine tragische Lebensgeschichte, die in einem Urteil ihr vorläufiges Ende nimmt. Aber entspricht sie der Wahrheit? Ist sie zu einseitig? Wenn man das Prinzip von Ursache und Wirkung anwendet, war sein Leben die Tat und er das Opfer.
Diese allgemeine Verschiebung hat in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich und schleichend in unseren Gerichtssälen Einzug gehalten. Scheinbar zu Recht wendet man sich heute sehr stark der Person des Täters zu. Man versucht seine Lebensgeschichte aufzuarbeiten und zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden. Aber wie es nun einmal die Physik eines Pendels vorgibt, wird dieser zunehmende Versuch, den Täter in den Vordergrund zu rücken, dessen Biografie alles entschuldigt, irgendwann einmal wieder in das andere Extrem umschlagen. Der Tatort spricht jedoch eine eigene Sprache.
Die Geschichte des jungen Mannes erklärt nicht, warum er auf die Stichwunde die Geldtasche seiner Großmutter gelegt hat. Sowohl die Tatortfotografien als auch die einfachen physikalischen Gesetze ermöglichen eine Zuordnung, dass von der zeitlichen Abfolge zunächst der Stich erfolgte und danach die Geldtasche des Opfers auf die Stichwunde gelegt wurde. Würden wir den Fehler begehen, dieses Verhalten aus unserer moralischen und ethischen Sicht zu beurteilen, hätten wir wahrscheinlich eine dreistellige Anzahl von unterschiedlichen Erklärungsversuchen. Messen bedeutet vergleichen. Also sollten wir genügend viele Fälle zur Verfügung haben, wo Verletzungsbilder am Opfer mit anderen Gegenständen zugedeckt wurden, und vor allem sollten wir die Erklärungen jener zur Verfügung haben, die dieses Verhalten bereits einmal gezeigt haben.
Die Aussage erklärt auch nicht, warum er seine Großmutter zugedeckt hat, nachdem er sie erstochen hat – im konkreten Beispiel sogar zweimal: einmal mit einer Art Überwurfdecke, die wir verwenden, damit unsere Couch oder das Doppelbett während des Tages nicht staubig wird. Mit dieser Decke wurde das Opfer von den Zehenspitzen bis über den Kopf hinaus gänzlich abgedeckt, sodass es nicht mehr sichtbar war. Auf die Überwurfdecke wurde noch ein Plastiksack gelegt, zentriert in die Mitte des Körpers: ein Sack vom Roten Kreuz, der dazu dient, Wäsche in gewaschenem und gebügeltem
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